Fi-na-le! Deutsche Fans im Rausch - Türken feiern mit
Berlin/Hamburg/Basel - Vom Sommermärchen ins Fanmeilenparadies: In zahlreichen Städten Deutschlands wurde der Einzug der deutschen Nationalelf frenetisch bejubelt - mit Feuerwerk und Hupkonzerten. Meist feierten Türken und Deutsche den Ausgang des Spiels gemeinsam so wie in Frankfurt. Dort trommelten sich die Türken den Frust von der Seele und Deutsche tanzten dazu.
Trotz der herben Enttäuschung teilten viele Türken die Freude mit den Deutschen. "Ich habe gemischte Gefühle, aber ich bin nicht traurig. Deutschland wird das Finale gewinnen", sagte ein Türke in Frankfurt. Seine Heimat sei Deutschland, deshalb habe er zu beiden Mannschaften gehalten. Ein Landsmann sagte, er hoffe, dass Deutschland das Endspiel gewinnt. Für die Türken sei auch der Einzug ins Halbfinale ein großer Erfolg.
Doch nicht überall verliefen die Feiern friedlich. SPIEGEL ONLINE berichtet über die wichtigsten Ereignisse der Partynacht:
Berlin - Mega-Meile und Multi-Kulti-Straßenfest
Mit dem Abpfiff verwandelte sich die Hauptstadt in Deutschlands größte Open-Air-Party zu Ehren des Fußballs. Hunderttausende Fans feierten am Mittwochabend im kollektiven Freudentaumel und mit wilden Hupkonzerten quer durch ganz Berlin. Die 500.000 Fußballfans auf der Fanmeile am Brandenburger Tor hatten zusammen eine Riesenfete - der Jubel beim entscheidenden dritten Tor durch Philipp Lahm konnte absolut mit der Massenfreude mithalten, die dort zu Silvester um Mitternacht aufbraust.
Die "alternative" deutsch-türkische Party lief im Stadtteil Kreuzberg, wo traditionell viele Türken wohnen - die bei jeder kleinsten Aktion der türkischen Mannschaft frenetisch jubelten, ihre Leute anfeuerten und klatschten.
Die im Vergleich wenigen deutschen Fans mussten sich aber nicht ausgeschlossen fühlen - viele Anwesende schwenkten beide Fahnen, in der Halbzeitpause wurde mit dem Nachbarn bei Bier und Grillgut über die Leistung beider Mannschaften diskutiert. "Endlich mal Minderheit sein", sagt eine Berliner Studentin scherzhaft und lacht.
Die schwache Leistung der Deutschen in der ersten Halbzeit lässt die Türken hoffen - doch spätestens in der 89. Minute macht sich bittere Enttäuschung breit. Beim Abpfiff dann sekundenlanges Schweigen - die türkischen Fans blicken stumm auf ihre Niederlage, die deutschen Fans können ihren Sieg kaum fassen. Wo noch am vergangenen Freitag Feuerwerk und rot-weiße Autokorsos das Bild bestimmten, spürt man in dieser Nacht vor allem Resignation. "Die Enttäuschung ist besonders groß, weil die Türken so gut gespielt haben", sagt ein Fan.
Doch Enttäuschung und Trauer kippen nicht in Wut um - deutsche Fans werden beglückwünscht, die Fahnen beider Länder geschwenkt, auf den Straßen kommt es zu Verbrüderungsszenen.
"Deutschland hat zwar gewonnen, aber wir machen trotzdem Party", sagt ein junger türkischer Fan - die Kreuzberger halten sich noch Stunden nach dem Abpfiff in Stimmung, Trommler und Bands machen Musik, die Menschen tanzen auf den Straßen. Nur die meisten deutschen Fans kämpfen sich durch Absperrungen und Polizeiblockaden und ziehen weiter Richtung Fanmeile - um den Siegesrausch voll auszukosten.
Ferda Ataman
Hamburg - Eiserne Geduld beim Totalausfall
Die Amüsiermeile der Stadt ist Sekunden nach dem Abpfiff komplett dicht - die Polizei bändigt die Massen mit Absperrgittern und Personenkontrollen. Zuvor hatten die türkischen Fans mit versteinerten Gesichtern das Ende der hochspannenden Halbfinalpartie verfolgt - viele wandten sich bereits in der 89. Minute enttäuscht von den Leinwänden und Flatscreens ab, als Deutschland in Führung ging.
Die über 42.000 deutschen und türkischen Fußballfans, die auf dem Hamburger Heiligengeistfeld das Spiel verfolgten, stürzen sich nach Abpfiff in die Kneipen und Bars der Stadt. Ahmet Hirac, 35, ist ein Kind türkischer Einwanderer und in Geesthacht geboren - an diesem Abend hat er sein türkisches Fanhemd übergezogen, "doch zum Finale zieh ich dann mein deutsches Shirt an", sagt er lachend. Er nimmt die Niederlage der Türkei mehr als locker: "Ich hätte mich in jedem Fall gefreut, egal wer gewinnt."
Die Situation zwischen den Fans war schon während des Spiels "extrem entspannt", berichtet ein Beobachter vor Ort. Das Bühnenprogramm wird von einem deutsch-türkischen Moderatorenteam geführt, aus den Lautsprecherboxen erklingen abwechselnd deutsche und türkische Hits. Der 20-jährige Hamburger Türke Erkan Ak sagte vor der Partie: "In erster Linie bin ich für die Türkei, aber ich freue mich auch, wenn Deutschland gewinnt" - passend zum Spielmotto habe er sich extra eine Deutschland-Flagge um den linken Arm, und eine türkische Fahne um den rechten gewickelt.
Sogar der zeitweilige Totalausfall in der Live-Übertragung bringt die Fanmassen nicht in aggressive Wallungen - nach den ersten wütenden Pfiffen aus dem Fan- und Fahnenmeer beruhigt der Veranstalter via Mikrofon und klärt auf: Die Panne passiere gerade überall, nicht nur in Hamburg, es gebe ein technisches Problem beim ZDF. Geduldig harren die Fußballliebhaber aus, starren gemeinsam gespannt auf die Leinwand - bis die Zitterpartie weitergeht.
Ernste Zwischenfälle werden auch Stunden nach dem Abpfiff nicht bekannt - höchstens ein paar Pöbeleien, ein enttäuschter Anrempler, vereinzelte Wortgefechte sind auf Reeperbahn und Schanzenstraße zu beobachten. Selbst bei den anschließenden Feiern herrscht seltene Einigkeit; deutsche und türkische Flaggen wehen bis tief in die Nacht aus Autofenstern, begleitet von wilden Hupkonzerten, Jubelschreien und Fangesängen.
Birger Hamann
Basel - Reich durch Pfandflaschenmeer
Das ausverkaufte Stadion in Basel fasst mehr als 40.000 Personen - und alle waren sehr, sehr durstig. Zwei 15-jährige Mädchen wollen für die Zeit nach dem Abpfiff davon profitieren: Während der Rest der Stadt im Feierrausch liegt, denken Claudia und Dominique an etwas ganz anderes. "Das Spiel interessiert uns gar nicht", sagt Claudia, "wir sagen den Einlassern jetzt, wir hätten unsere Jacken im Stadion vergessen - und dann sammeln wir alle Pfandflaschen ein". Mit "fast 100 Euro" hätten sie beim letzten Länderspiel ihr Taschengeld durch den EM-Trick aufbessern können, fügt Dominique hinzu.
Während erschöpfte Fans aus dem Stadion strömen, verschwinden die Mädchen in der Masse. Die Stimmung sei ruhiger als bei früheren Spielen gewesen, was auf die Hitze und die an einem Arbeitstag zwangsweise eher späte Anreise der Fans zurückgehen könne, heißt es von Seiten des Veranstalter.
Fans der deutschen und der türkischen Nationalelf hatten bereits im Laufe des Nachmittags die Basler Innenstadt in Beschlag genommen. Über der Mittleren Brücke prangte auf einem Spruchband der Gruß "Willkommen Deutschland - Haoshosgeldin Türkiye". Von der Brücke sprangen trotz Verbot erhitzte Fans in den Rhein. An der Landesgrenzen stoppte der Schweizer Zoll am Mittwoch, wie an anderen Spieltagen, vereinzelt Hooligans.
Nach dem Spiel umarmen sich Gewinner und Verlierer vor dem Stadion, türkische Fans sind gefasst, deutsche Fans erleichtert. Der 30-jährige Arthur aus Duisburg ist extra für das Spiel angereist: "Das Ergebnis hat gestimmt, aber die Stimmung im deutschen Fanblock hätte echt ausgelassener sein können!", sagt er, "wahrscheinlich liegt es an der Mentalität, die Türken können einfach besser feiern".
Christoph Ruf, mit Material von dpa
München, Frankfurt, Stuttgart - Feierzonen überall
Ausnahmezustand auch in den südlichen Bundesländern. In Bayern tanzten die Fans auf den Tischen und Bänken der Biergärten, in Hessen floss literweise der Äppelwoi, in Baden-Württemberg die Weinschorlen. In München verfolgten 30.000 Zuschauer das Spiel im Olympiastadion, weitere 12.000 waren in der Innenstadt unterwegs. Nach dem Abpfiff zogen die Fans auf die Leopoldstraße, zündeten Feuerwerke.
Hupende, schwarz-rot-gold beflaggte Autos fuhren auch durch Nürnberg, wo knapp 20.000 Fans das Spiel auf zwei öffentlichen Großleinwänden verfolgt hatten.
Mit Feuerwerk, Freudentänzen und Autokolonnen bejubelten hessische Fans den Einzug der deutschen Fußball-Nationalmannschaft ins Finale der Europameisterschaft. Türken und Deutsche feierten den Ausgang des Spiels gemeinsam in der Frankfurter Innenstadt. "Es ist eine große Fußballparty", sagte ein Polizeisprecher. Türken trommelten, Deutsche tanzten dazu auf der Straße. Übermütige kletterten auf Ampelmasten und schwenkten deutsche und türkische Fahnen.
In Frankfurt galt für die Polizei die höchste Sicherheitsstufe, die Beamten hielten sich aber im Hintergrund. Streng wurden die Zugänge kontrolliert. Zusätzlich zum Platz auf dem Rossmarkt war eine zweite Arena an der nahegelegenen Konstablerwache in der Innenstadt eingerichtet worden. Auf beiden Plätzen verfolgten insgesamt rund 10.000 Menschen das Spiel.
In Kassel, Stuttgart, Wiesbaden, Gießen sowie in vielen anderen Städten der Republik gab es Fanmeilen unter freiem Himmel.
jjc/dpa/ddp/AP
Dresden - Verletzte bei Angriffen auf Dönerläden
Nach dem deutschen Sieg im EM-Halbfinale sind in Dresden Polizeiangaben zufolge mehrere Dönerbuden angegriffen worden. Es sei zu Sachbeschädigungen in den türkischen Geschäften in der Dresdner Neustadt gekommen, sagte ein Polizeisprecher. Nach Angaben der Polizei hat es sich um eine Gruppe von 20 bis 30 angetrunkenen Jugendlichen gehandelt, die nach der Tat sofort unerkannt flüchtete.
Nach dem Angriff auf die Imbisse sei es zu erregten Diskussionen auf der Straße gekommen, die in einer Schlägerei endeten, sagte ein Polizeisprecher. Dabei seien mehrere Personen verletzt worden, vermutlich auch die Besitzer von Dönerläden. Über die genaue Anzahl der Opfer sowie die Art der Verletzungen konnte die Polizei noch keine Angaben machen.
Insgesamt mussten in Dresden in der Zeit von 20 Uhr bis Donnerstagfrüh 1.30 Uhr 17 Personen medizinisch behandelt werden, vor allem wegen Schnittverletzungen durch zerschlagene Bierflaschen, übermäßigen Alkoholgenuss und Schlägereien, sagte der Sprecher. Etwa zehn Personen kamen vorübergehend in Polizeigewahrsam.
jjc/cai/ddp/Reuters
Istanbul - "Wir tragen den Kopf hoch"
Kein Hupen, kein Jubeln und keine Autokorsos: In den Minuten nach dem Sieg Deutschlands im Halbfinalspiel über die Türkei hat sich in Istanbul eine bedrückende Stille ausgebreitet. Die Fans in der größten türkischen Stadt schwiegen, als Deutschland in Führung ging. Der Moderator im türkischen Fernsehen schien fassungslos und sagte beim Abpfiff nur: "Es ist zu Ende."
Nach den vorherigen Spielen der Europameisterschaft, bei denen die Türkei überraschend gut abgeschnitten hatte, kamen immer Zehntausende jubelnd in den Straßen Istanbuls zusammen. Auf dem Taksimplatz sahen am Mittwochabend Tausende Fans das Spiel auf einer Großbildleinwand, leidenschaftlich begleitet von Trommeln und bengalischen Feuern.
Minuten nach dem Sieg der deutschen Mannschaft wurden aber schnell wieder trotzige "Türkiye, Türkiye"-Rufe angestimmt. "Wir tragen den Kopf hoch", sagte der türkische Staatspräsident Abdullah Gül in einem Fernsehinterview.
amz/AP/dpa
Wien - Massenpanik überschattet Feiern
Die Feiern in Österreich wurden durch schwere Unwetter getrübt: Gewitter, Hagel und Platzregen über Wien führten zu chaotischen Verhältnissen auf der Wiener Fanmeile. Bei der panikartigen Flucht zehntausender Fans vor dem verheerenden Gewitter wurden nach Angaben der Polizei zwei Fans niedergetrampelt und dabei schwer verletzt. Ein Fan erlitt einen Beckenbruch, berichtete die österreichische Nachrichtenagentur APA.
Zum Anpfiff des Spiels hatten sich knapp 30.000 Menschen in der Fanzone vor dem Wiener Rathaus versammelt. Unter ihnen waren Tausende deutscher Fans. Obwohl die Veranstalter schon vor dem Aufziehen des Gewitters die Zuschauer über die große Videowand warnte, wurde das Publikum vom schlagartigen Einsetzen des Unwetters überrascht. Gegen 22.15 Uhr musste die Fanmeile wegen des heftigen Regens und Windgeschwindigkeiten bis zu 100 Stundenkilometern geräumt werden. Bei der Massenflucht der Fans wurden dann die beiden Fans niedergetrampelt. Die Regenfälle dauerten bis nach Mitternacht an.
amz/dpa