"Football@home" Nationalelf statt Knast
Als Nationalspieler Mario Basler einst öffentlich trank und rauchte, war die öffentliche Empörung groß. Es fehlte nicht viel zu einem "ARD-Brennpunkt". Dass ein Träger des Ehrenleibchens der Nation Ausländer verprügelt, ist in Deutschland jenseits aller Vorstellungskraft. Schon die öffentliche Misshandlung einer Orange durch Schälen derselben auf dem Bahnsteig reichte weiland Reichstrainer Otto Nerz vor der WM 1934 aus, um Nationalspieler Sigmund Haringer nach Hause zu schicken. Eine Anekdote übrigens, die in England bekannter scheint als in Deutschland, weil sie wohl selbst für die absurdeste Skurrilitäten aller Art gewöhnten Briten reichlich bizarr ist.
Lange Zeit galt jedenfalls: Die englische Nationalmannschaft wäre auch auf jedem internen Turnier der Anonymen Alkoholiker spielberechtigt gewesen. Oft der Kapitän vorneweg: Tony Adams, Arsenal London, erhielt 1990 vier Monate Gefängnis wegen Alkohols am Steuer, später folgte dann die autobiographische Aufarbeitung seiner Alkoholkrankheit in dem Buch "addicted" ("abhängig"). Auch Nationalspieler Ray Parlour, ebenfalls Arsenal, durfte eine Gefängniszelle von innen kennen lernen. Und zwar 1995 in Hong Kong, als er nach reichlichem Verzehr von flüssig Brot den Taxifahrer ohne Unterlass mit chinesischen Glückskeksen beworfen hatte.
Gascoignes Vorbild
Dass sich allerdings selbst im traditionsverhafteten England die Zeiten zu ändern begannen, musste Paul Gascoigne erfahren als er zur WM 1998 aus dem Kader flog - wegen seiner Trinksitten und der Unart, im Vollrausch Hotelzimmer zu zerlegen. Paul Gascoigne war noch von echtem Schrot und Doppelkorn. Bewundernd schwärmte er für sein Vorbild Bryan Robson: "Er ist der einzige Spieler, der 16 Pints trinken und am nächsten Tag noch Fußball spielen konnte."
Ja, nur wer auch richtig saufen kann, ist eben ein ganzer Kerl, ein wahrer Volksheld. Und ein wahrer Volksheld liefert sich eben dann und wann auch eine zünftige Keilerei. Womit wir wieder beim Prügeln wären.
In Deutschland wurde Uli Stein nach dem Faustschlag gegen Jürgen Wegmann vom HSV umgehend gefeuert. Der zwischen 1991 bis 1997 erst bei Leeds United, dann für Manchester United kickende Franzose Eric Cantona hingegen stieg nach seinem Kung-Fu-Angriff auf einen gegnerischen Anhänger endgültig zur mythenbehafteten Figur auf dem angebeteten Fußballgötterolymp der Fans auf.
Acht Wodka-Rum plus ungezählte Gläser Champagner
Bei all diesen Vorbildern hatten die Leeds-United-Spieler Lee Bowyer (Mittelfeld) und Jonathan Woodgate (Abwehr) eigentlich alles richtig gemacht, als sie am 11. Januar 2000 in einem Nachtclub von Leeds erst einmal soffen, was das Zeug hielt: acht Wodka-Rum plus ungezählte Gläser Champagner standen auf Woodgates Deckel; verglichen damit hielt Bowyer geradezu Maß und erlaubte sich bescheidene acht Pints Bier (ca. 4,5 Liter). Woodgate war auch in Sachen Prügeln dem Kollegen Bowyer einen Schritt voraus: Bereits 1996 hatte Woodgate einschlägig auf sich aufmerksam gemacht, als er ein McDonalds-Restaurant fachgerecht in Schutt und Asche gelegt hatte. Folgerichtig hatte Woodgate sein Debüt in der englischen Nationalelf bereits hinter sich, Bowyers Jungfernspiel im Trikot der "Three Lions" stand allerdings nach grandiosen Leistungen in Premiership und Champions League kurz bevor.
Doch zurück zum Prügeln. Geprügelt wurde an jenem 11. Januar 2000 auch noch, Opfer war ein 21-jähriger Student aus Leeds. Bowyer bestritt jede Beteiligung an der Tat und wurde am Ende eines langwierigen Strafverfahrens freigesprochen - Woodgate kam wegen Beteiligung an einer Schlägerei mit 100 Stunden gemeinnütziger Arbeit davon. Beide werden vom Opfer nun allerdings auf dem Zivilrechtswege auf Schadensersatz verklagt. Der Freispruch im Strafprozess nutzt Bowyer hier nichts - das Zivilgericht kann - auch wegen anderer Beweisregeln - zu einem anderen Ergebnis kommen.
Wäre es jedoch bloß eine zünftige Schlägerei im Januar 2000 gewesen - fraglich, ob Bowyer und Woodgate vom englischen Verband wirklich unmittelbar nach Bekanntwerden der von Bowyer nach wie vor bestrittenen Vorwürfe bis zum Ende der WM 2002 gesperrt worden wären. Immerhin tauchte Woodgate erst im April dieses Jahres nach einer feucht-fröhlichen Nacht in Middlesbrough mit einem gebrochenen Wangenknochen beim Training auf - und keinen interessierte es so recht. Die Person des Opfers war es, die den Verband zu der über zweieinhalbjährigen Sperre im Wege der Vorverurteilung veranlasste. Der 21-jährige Student ist nämlich Ausländer.
Aber selbst das wäre in einem Land, in dem eine Boulevarzeitung 1996 vor dem EM-Halbfinale England - Deutschland die Volksstimmung auf der Titelseite mit Stahlhelmbild und den Worten "Surrender! For you Fritz, ze Euro 96 is over! ("Gib auf! Für Dich, Fritz, ist die Euro 1996 vorbei") in Schlagzeilen fasste, noch nicht der absolut unverzeihliche Tabubruch gewesen.
Das Opfer war Asiate. Und er war in jener Nacht aus rassistischen Motiven erst durch die Straßen gehetzt und dann zusammengeschlagen worden.
"Übertriebener Akt der political correctness"?
Nicht "nur" Ausländerfeindlichkeit also. Sondern Rassendiskriminierung. Ein No-No. Ein Never-Ever. Außer in Leeds. Nicht nur die Fans des einst rein "weißen" Clubs tun sich schwer mit Toleranz und Weltoffenheit, insbesondere seit ein United-Anhänger bei einem Europacupspiel in Istanbul von Türken erstochen wurde. Auch das Führungspersonal des Clubs geht mit schlechtem Beispiel voran. Trainer David O'Leary entgleiste verbal, nannte die Sperre einen "übertriebenen Akt der political correctness", meinte, Bowyer sei ein "unschuldiger Junge" und Woodgate hätte doch bestenfalls eine "große Dummheit" begangen.
Am vergangenen Samstag war die Sperre des Verbandes abgelaufen. Im Freundschaftsspiel gegen Portugal (1:1) gab Bowyer sein Debüt in der Nationalelf, Woodgate wurde später eingewechselt. Bowyer spielte durchwachsen - ein lahmer Schuss aufs Tor, ein brutales Foul, aber auch die Vorlage zum einzigen englischen Treffer durch Vereinskamerad Smith.
Auch für Coach Eriksson ist die "große Dummheit" abgehakt: "Ich bin nicht ihr Papa. Ich bin nur ihr Fußballtrainer." Vorläufig kickt Boyer also für England. Vorläufig, denn da ist ja noch dieser asiatische Student mit seiner Zivilklage...