Fritz Walters Hackentrick Das vergessene Jahrhunderttor
Schon der äußere Rahmen verhieß ein Fußballfest: Am 6. Oktober 1956 standen sich in Leipzig Wismut Karl-Marx-Stadt und der 1.FC Kaiserslautern gegenüber. Amtierender DDR-Meister gegen westdeutsches Spitzenteam. Eines der ersten deutsch-deutschen Sportduelle nach der Staatenteilung. Die Gäste gespickt mit zahlreichen aktuellen Weltmeistern: Eckel, Kohlmeyer, Liebrich und natürlich die Walter-Brüder Fritz und Ottmar - gesamtdeutsche Idole, "unsere" Helden von Bern, wie auch zahlreiche DDR-Bürger damals empfanden. Freudige Erwartung, jeder wollte diese Stars live erleben.
Das erst zwei Monate zuvor eröffnete Leipziger Stadion bot dafür die angemessene Kulisse und den maximalen Platz. Der gigantische Bau beeindruckte frei aller politischer Interpretationen in Ost und West gleichermaßen. Auf den 23 Meter hohen Rängen existierten Sitzplätze für 100.000 Zuschauer. 20.000 nahmen auf Betonfertigteilen Platz, weitere 80.000 auf Sitzbänken.
Knapp einen Monat zuvor, zum Leipziger Oberliga-Derby zwischen Rotation und Lokomotive (1:2), war die Schüssel bereits voll gewesen. 100.000 bis heute gültiger deutscher Zuschauerrekord für Punktspiele (Bundesliga: 88.075 bei Hertha BSC Berlin gegen 1. FC Köln 1969 im Olympiastadion). Doch zu diesem Freundschaftsspiel wurde die Zuschauerzahl noch einmal übertroffen. 10.000 weitere Fans verfolgten das Geschehen stehend auf den Zugangstreppen.
So hat ers gemacht
Die Erwartungen wurden erfüllt, die Anwesenden bekamen einiges geboten. Unter anderem acht Treffer. 5:3 siegten die Gäste aus dem Westen, doch das Resultat geriet schnell zur Nebensache. Nach dem Abpfiff redete alles nur von diesem einen, diesem ungeheuerlichen Tor des Lauterer Kapitäns. Die Presse prägte hinterher den Begriff "Jahrhunderttor".
Wäre die Wahl zum Tor des Monats der Sportschau nicht erst 1971 eingeführt worden, hätte Klaus Fischers legendärer Fallrückzieher gegen die Schweiz von 1977, dem dieses Prädikat angeheftet wurde, sehr ernste Konkurrenz gehabt. Doch keine Fernsehkamera hat Fritz Walters "Fall-Vorzieher" auf Zelluloid gebannt. Lediglich ein Foto existiert als Beleg für die Nachwelt. Und eine authentische Beschreibung.
In seinem Fußball-Lehrbuch "So habe ich's gemacht ..." (München: Copress-Verlag 1962) erinnert sich Fritz Walter an den wohl schönsten Treffer seiner nicht gerade torarmen Laufbahn: "Der von rechts kommende Flankenball senkte sich hinter meinem Rücken. Da ließ ich mich nach vorne fallen, fast in den Handstand und schlug mit der Hacke zu. Aus zwölf, fünfzehn Metern Entfernung flog der Ball haarscharf ins obere Toreck. Dass es ein Tor wurde, war (...) Glück. Dass ich in dieser Situation aber überhaupt an den Ball kam und ihn traf, das war kein Glück." Fritz Walter hatte die Bewegung vielmehr verinnerlicht. Eingeschliffen im Training auf dem Betzenberg, wenn es zum Spaß hieß: "Jungs, jetzt spielen wir mal fünf Minuten italienisch."
Kunst versus Show
Walter sah den Absatzkick als Notlösung, nicht als gängiges Fußwerkzeug. Er wusste: das Spiel mit der Hacke ist eine heikle Sache. Wie beim Tunnel, wenn man versucht, dem Gegner den Ball durch die Beine zu spielen, ist der Grat zwischen Jubel und Blamage äußerst schmal. Es ist dieser feine Unterschied zwischen Kunst und Show. Nichts ist peinlicher, als wenn ein unnötiger Hackentrick misslingt. Manch Trainer hat darauf schon verärgert reagiert und den verhinderten Künstler prompt ausgewechselt, manch Zuschauer den eisenharten Verteidiger frenetisch beklatscht, der auf diese versuchte Demütigung mit einer saftigen Grätsche reagierte.
Top 10 Hackentricks
Platz | Name | Team | Datum | Gegner |
---|---|---|---|---|
1. | Fritz Walter | Kaiserslautern | 1956 | Karl-Marx-Stadt |
2. | Denis Law | Manchester City | 1974 | Manchester United |
3. | Z. Ibrahimovic | Schweden | 2004 | Italien |
4. | Rafael v. d. Vaart | Ajax Amsterdam | 2003 | Feyenoord |
5. | Rabah Madjer | FC Porto | 1987 | Bayern München |
6. | Rüdiger Wenzel | FC St. Pauli | 1989 | HSV |
7. | Paulo Sergio | Bayern München | 1999 | PSV Eindhoven |
8. | Anel Dzaka | VfL Osnabrück | 2003 | FSV Mainz 05 |
9. | Laurent Robert | Newcastle United | 2003 | Tottenham |
10 | A. Mancini | AS Rom | 2003 | Lazio Rom |
Fritz Walter doziert: "Natürlich lassen sich im Spiel solche Szenen nicht erzwingen. Und man sollte das auch gar nicht erst versuchen: denn auf normale Art schießt es sich halt doch besser. Wenn aber einmal ein Ball nicht anders zu erreichen ist als mit dem Absatz, dann unterscheidet sich der gute Stürmer insofern vom schlechten, als er auch in dieser Lage die richtige Antwort weiß."
Legendäre Hackentricks sind deshalb oftmals die einzig adäquaten Bewegungsantworten auf eigentlich missglückte Spielsituationen. Die Vorarbeit zu Walters Tor war eher schlecht, denn die Flanke wurde ihm in den Rücken gespielt. Ähnlich der Ablauf bei den Treffern von Rafael van der Vaart (2003 für Ajax Amsterdam gegen Feyenoord Rotterdam) und Anel Dzaka (2003 für den VfL Osnabrück gegen Mainz 05) miese Flanke, sensationelle Verwertung.
Auch Portos Rabah Madjer stand nicht wirklich optimal, sondern mit dem Rücken zum Tor, als er 1987 im Landesmeisterfinale per Hacke traf. Sein Geniestreich zahlte sich aus. Neben dem Pokal hatte der Algerier plötzlich auch ein eindrucksvolles Argument für künftige Vertragsverhandlungen in der Hand. Durch sein Hackentor verdreifachte er sein Gehalt und sicherte sich einen ewigen Platz in den Annalen der Fußball-Historie und in den Alpträumen der Bayern-Fans.