EM-Überraschung Island Keine Angst vor niemandem

EM-Überraschung Island: Keine Angst vor niemandem
Foto: Tibor Illyes/ dpaDas Spiel war in der sechsten Minute entschieden. Diesen Eindruck hatte zumindest Islands Trainer Heimir Hallgrímsson gewonnen. Zu diesem Zeitpunkt des Achtelfinalspiels gegen England hatten die Isländer gezeigt, dass sie sich nicht so einfach kleinkriegen lassen, dass sie auch vor großen Nationen keinen Respekt haben. Wayne Rooney hatte in der vierten Minute per Elfmeter getroffen. Aber nur zwei Minuten später glichen sie durch den aufgerückten Verteidiger Ragnar Sigurdsson aus. Da wusste Hallgrímsson, was Sache war.
Nach der Partie, nach dem 2:1-Sieg der Isländer, mit dem sie sich einen Platz im Viertelfinale gegen Gastgeber Frankreich am Sonntag (21 Uhr, High-Liveticker SPIEGEL ONLINE; TV: ZDF) sicherten, saßen Hallgrímsson und sein gleichberechtigter Kollege Lars Lagerbäck mit bester Laune vor der Presse.

England vs. Island: Einwurf ins Glück
Sie sprachen ausführlich über den bisher größten Auftritt in der Fußballhistorie Islands, und die sechste Minute nahm einen zentralen Platz in ihrem Vortrag ein. "Das war der Schlüsselmoment. Der Plan der Engländer war es, uns früh zu schlagen. Sie dachten, das wäre ihnen mit dem Tor gelungen. Aber wir haben direkt geantwortet. Das war psychologisch sehr wichtig", sagte Hallgrímsson. Der Siegtreffer durch Kolbeinn Sigthórsson in der 18. Minute fiel dieser Logik zufolge beinahe zwangsläufig.
Die Isländer sind also weiter bei der EM dabei. Und das, obwohl im kleinen Land nur wenig mehr als 20.000 Menschen Fußball spielen. Obwohl Coach Hallgrímsson bis vor Kurzem noch als Zahnarzt gearbeitet hat. Obwohl Torwart Hannes Halldórrsson Regisseur des Musikvideos von Islands Teilnehmer am Eurovision Song Contest war.
Sehen Sie hier die EM-Video-Highlights zum Spiel Island - England:
Warum ist die Mannschaft noch dabei? Weil sie widerstandsfähig ist, weil sie sich durch einen frühen Rückschlag nicht verunsichern lässt. Und weil sie immer besser Fußball spielt. Der Sieg gegen England war kein Ergebnis nordischer Maurerkunst. Er kam nicht etwa zustande, weil die Isländer destruktiv gespielt und zweimal Glück gehabt hätten.
Ihre Basis war weiter ihre disziplinierte taktische Ordnung, doch sie standen deutlich offensiver als noch in den ersten Spielen, kombinierten sich ansehnlich nach vorn, hatten gute Chancen und waren in der zweiten Hälfte dem dritten Treffer näher als die Engländer dem Ausgleich. Der Viertelfinaleinzug der Isländer war nicht glücklich, er war verdient.
"Wir waren nahe an 100 Prozent. Die Mentalität, die Laufleistung, das Spielerische, alles hat gestimmt", sagte Trainer Lagerbäck. "Die Engländer dachten, das wird ein Spaziergang. Aber wir haben kaum Chancen zugelassen", befand Verteidiger Sigurdsson. So sind es die Isländer, die weiter durchs Turnier spazieren.
Nach dem Abpfiff gab es Bilder zu sehen, die es in jeden EM-Rückblick schaffen sollten. Die isländischen Spieler nahmen vor ihrer Fankurve Aufstellung, breiteten die Arme aus und klatschten über dem Kopf in die Hände, erst mit längerem Abstand, dann in immer schneller werdendem Takt. Die Zuschauer auf den Rängen machten mit. Dazu donnerten wieder ihre "Hu!"-Schreie durch das Stadion, die sie schon das ganze Turnier über vorführen. "Ich möchte mich bei allen Isländern bedanken, die hier waren", sagte Trainer Hallgrímsson später. Die Mannschaft habe einen tollen Job gemacht. Aber die Fans? Die seien überragend gewesen.
Die erste große Fußballnation haben die Isländer jetzt aus dem Turnier geworfen, und ihnen fällt kein Grund ein, warum sie nicht auch Gastgeber Frankreich im Viertelfinale schlagen sollten. Sie sehen sich noch nicht am Ende ihrer EM-Expedition. "Die Franzosen haben noch nicht ihrem besten Fußball gespielt. Wir aber auch nicht. Wir wollen noch dominanter sein", kündigte Verteidiger Sigurdsson an. "Wir hoffen, dass wir unser bestes Spiel noch vor uns haben", sagte Hallgrímsson. Er hat ein Talent dafür, den großen Bogen zu spannen und aus einem Fußballspiel allgemeine Wahrheiten abzuleiten. "Wenn du das Beste im Leben erreichen willst, musst du bereit sein, wenn die Chance dazu kommt", sagte er.
Die Chance ist gerade da für die isländischen Fußballer. Und mit dem Sieg gegen England haben sie endgültig gezeigt, dass sie auch bereit sind.