Deutschlands Aus im EM-Achtelfinale Die Tränen von Wembley

Thomas Müller muss nach Abpfiff Joshua Kimmich trösten
Foto:JUSTIN TALLIS / AFP
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Szene des Spiels: Thomas Müller marschierte eine halbe Ewigkeit. Nach Fehlpass von Englands Raheem Sterling hatte Kai Havertz den DFB-Stürmer steil geschickt. Und dann lief Müller, er lief und lief, Meter für Meter allein auf das Tor zu. Man konnte fast mitüberlegen, in welche Ecke er schießen sollte. Müller stand an diesem Abend im Wembley zum 26. Mal in Folge bei einem Spiel bei einer Europameisterschaft oder einer WM auf dem Platz, DFB-Rekordwert. Dann entschied sich der 31-Jährige für die linke Ecke, doch der Schuss in der 81. Minute ging knapp vorbei. Es hätte der Ausgleich zum 1:1 im EM-Achtelfinale sein können. Er war es nicht.
Ergebnis des Spiels: Nach dem Müller-Fehlschuss erzielte England noch einen weiteren Treffer. Dann war es vorbei, dann weinte Joshua Kimmich auf dem Feld. Die Partie im Wembley-Stadion endete 0:2 (0:0) aus deutscher Sicht. England darf weiter auf den Titel hoffen, der nächste Gegner ist am Samstag der Sieger aus dem Duell zwischen Schweden und der Ukraine. Für die deutsche Mannschaft ist Schluss.
Eine andere Taktik sollte Deutschland in diesem Spiel helfen - am Ende hat sich England aber mit eiskalter Effizienz durchgesetzt. #EURO2020 #ENGGER
— Sportschau (@sportschau) June 29, 2021
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Feierabend: Damit endet auch die Zeit von Joachim Löw als Bundestrainer, der seit 2006 die deutsche Nationalmannschaft als Chefcoach geleitet hatte. Der Höhepunkt unter seiner Regie war der WM-Titel 2014, der Tiefpunkt das blamable Vorrundenaus in Russland 2018. Und, das steht nun auch fest, seine Zeit beim DFB endet ohne einen EM-Titel. Eine »Riesenenttäuschung« nannte Löw das Aus in der ARD. Fest steht: Nur im Duell gegen Portugal konnte die DFB-Elf bei der EM voll überzeugen. Es gab insgesamt sieben Gegentreffer in vier Spielen, ein Zitterremis gegen Ungarn, eine schwache Offensive gegen Frankreich. Das ist keine Topbilanz.
Ab durch die Mitte: Die Pfiffe und Buhrufe während der Nationalhymne, das Auswärtsspiel in Wembley, das alles schien die deutsche Mannschaft nicht zu hemmen. Mit Leon Goretzka, Thomas Müller und Timo Werner in der deutschen Startelf begann das Duell der Rivalen. Mehr »Tiefe, Schnörkellosigkeit und Geradlinigkeit« versprach sich Löw von den Änderungen. Und er sollte sie erst mal bekommen, vor allem von Goretzka. Mit Offensivsprints durch die Mitte, Wucht im Zweikampf und einem ersten frühen Torschuss (wenn auch unplatziert) setzte der 26-Jährige schnell erste Duftmarken im Angriff.
Nur die Einzelaktionen sind hübsch: So richtig in Schwung kam keine Mannschaft. Das deutsche Team hatte hier und da Einzelaktionen, wie in der 32. Minute, als Havertz Mitspieler Werner in Szene gesetzt hatte. Aber es gab keinen echten Spielfluss, kein DFB-Team, das einen echten Fahrplan entwickelte. Etwas mehr Kontrolle ins Spiel bekam England. Nach guter Anfangsphase der DFB-Elf rückten die »Three Lions« deutlich raus, standen höher, und diese Verlagerung versperrte der deutschen Mannschaft den Weg durch die Mitte. Ein Fernschuss von Raheem Sterling zwang Manuel Neuer zur ersten Abwehrtat (16. Minute), kurz darauf sorgte ein Kopfball von Harry Maguire für Gefahr. Aber das war es – fast.
Die Grätsche: Einen Aufreger gab es noch, in der Nachspielzeit der ersten Hälfte. Thomas Müller hatte im Aufbau einen Fehlpass gespielt, und dann ging es schnell. Sterling machte Tempo, zog in die Mitte und gleich drei DFB-Kicker auf sich, dann ging der Ball raus auf Harry Kane und der war bereits fast an Neuer vorbei. Aber nicht an Mats Hummels. Mit einer Grätsche kam der Verteidiger von Borussia Dortmund noch vor Kane an den Ball und schob ihn aus dem Strafraum. »Riesenaktion«, brüllte ARD-Kommentar Florian Naß ins Mikrofon. Kein Widerspruch.

Er schoss nicht direkt, er wollte vorbeigehen: Harry Kane
Foto: MATTHEW CHILDS / AFPMensch, Harry: Kane blieb nach der Szene liegen, fassungslos blickte er auf den Rasen, und womöglich konnte er es sich selbst nicht erklären, nicht direkt geschossen zu haben. Nur neun Ballkontakte hatte der Angreifer von Tottenham in der ersten Hälfte, in der zweiten musste er behandelt werden. Es heißt, große Stürmer können 90 Minuten abgemeldet sein – und am Ende schlagen sie doch zu. Doch in diesem Moment, da hatte er kein Glück gegen Hummels. Andererseits: Es waren auch erst 45 Minuten gespielt.
Time to bring on Sancho...
— Erling Haaland (@ErlingHaaland) June 29, 2021
Post aus Norwegen: Während der Halbzeitpause meldete sich Erling Haaland, der norwegische Stürmer von Borussia Dortmund. Er schrieb bei Twitter: »Time to bring Sancho.« Zeit, um Jadon Sancho zu bringen, seinen Teamkollegen vom BVB, den 21 Jahre alten Offensivwirbel – der bei der EM fast noch gar keine Rolle gespielt hat. Gareth Southgate erfüllte Haaland diesen Wunsch aber nicht. Der englische Trainer setzt auf Defensive und steht dafür auch in der Kritik .
Mit Grealish die Power: Das Spiel hatte keinen Schönheitspreis verdient. Es gab zwar einen starken Schuss von Havertz kurz nach Wiederbeginn, aber das war wieder nur eine Einzelaktion. In der 68. Minute dann der Wachmacher – für England. Jack Grealish kam in die Partie, und plötzlich jubelte die ganze Arena. Der Mann von Aston Villa steht für Offensive, für Überraschungen und Kreativität. Grealish war es dann sieben Minuten später, der nach Zuspiel von Kane links raus zu Luke Shaw passte. Dessen flache Hereingabe schob Sterling in der Mitte aus vier Metern an Neuer vorbei – 1:0.
Corona jubelt mit: So gut wie keine Masken, wenig Abstand, Partystimmung – so sah es auf den Tribünen rund um den Führungstreffer aus. Dabei breitet sich die Delta-Variante in Großbritannien weiter aus und die Sieben-Tage-Inzidenz kletterte zuletzt auf einen Wert von 170. Es hätte Argumente gegeben, die Zuschauerbegrenzung im Wembley zumindest bei knapp 20.000 Fans pro Spiel zu belassen, wie es in der Vorrunde der Fall gewesen ist. Stattdessen wurden – auch nach Druck der Uefa – 45.000 Fans gegen Deutschland zugelassen. Lesen Sie hier einen Kommentar zum Thema.
Die Entscheidung: Dann hatte Kane doch noch seinen Torjäger-Moment, in der 86. Minute erzielte er das 2:0 per Kopf – und damit auch seinen ersten Treffer bei dieser EM überhaupt. Es schien eine Last auf dem England-Kapitän zu sitzen, nun war sie von ihm gefallen.
Ausblick: Künftig wird Hansi Flick die deutsche Nationalmannschaft betreuen. Das DFB-Team hat viel individuelle Qualität. Die Aufgabe des kommenden Nationaltrainers wird es sein, daraus eine Mannschaft zu entwickeln – mit einer passenderen Spielidee. Am 2. September geht die Qualifikation für die WM 2022 weiter.