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Länderspiel in der Türkei: Fanprotest statt Fußballfest

Foto: Hannibal Hanschke/ dpa

Fußball in der Türkei "Wir haben die Lügen satt"

Bestochene Schiris, verschobene Spiele, Ermittlungen der Staatsanwaltschaft: Der türkische Fußball steckt in einer schweren Krise. Die Fans wenden sich enttäuscht ab. Jetzt trifft die verunsicherte Nationalmannschaft in der EM-Qualifikation auch noch auf die bislang ungeschlagenen Deutschen.

Guus Hiddink hat in seiner langen Laufbahn als Fußball-Lehrer viele außergewöhnliche Momente erlebt: Als Coach der südkoreanischen Nationalmannschaft erreichte er 2002 völlig überraschend das WM-Halbfinale, sechs Jahre später führte er Russland ins EM-Halbfinale. Ihm eilt der Ruf voraus, fast jedes Team zu Erfolgen führen zu können.

Inzwischen arbeitet der Niederländer als Trainer der türkischen Nationalmannschaft. Derzeit beschäftigt er sich weniger mit Laufwegen und Aufstellungen. Von einer neuen Sensation spricht Hiddink schon gar nicht. In den vergangenen Tagen ist er vor allem um zwei Dinge bemüht: Ruhe und Normalität.

Etwas weniger Aufregung kann seine Mannschaft bei der Qualifikation zur Europameisterschaft in Polen und der Ukraine im kommenden Jahr gut gebrauchen. Die Türkei liegt derzeit hinter Deutschland auf Platz zwei, nur zwei Punkte vor Belgien, und ist auf einen Sieg gegen die Löw-Elf am Freitag (20.30 Uhr, Liveticker SPIEGEL ONLINE) dringend angewiesen. "Wenn wir es in die Endrunde schaffen, betrachte ich mich als erfolgreich", sagte Hiddink.

Seine zurückhaltende Rhetorik kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass derzeit nichts normal ist im türkischen Fußball. Seit Wochen erschüttert ein beispielloser Manipulationsskandal in der Süper Lig, der ersten türkischen Liga, das Land - eine Affäre, die dazu imstande ist, den türkischen Fußball "auszulöschen", wie der Fußball-Kommentator Bagis Erten sagt.

Der Skandal belastet auch die Nationalmannschaft

Mindestens 19 Spiele sollen verschoben, Schiedsrichter gekauft, Spieler bestochen worden sein. Im Mittelpunkt des Skandals steht der Club Fenerbahçe Istanbul und dessen Präsident Aziz Yildirm. Dem mächtigen Verein droht der Zwangsabstieg in die zweite Liga. Aus der Champions League hat der türkische Verband Fenerbahçe auf Druck der Uefa bereits ausgeschlossen. Präsident Yildirim sitzt im Gefängnis. Die Staatsanwaltschaft ermittelt.

Der Skandal, das gesteht Hiddink ein, belastet auch die Nationalmannschaft. Die Verunsicherung war den Spielern zuletzt beim 0:0 gegen Österreich deutlich anzumerken. Fenerbahçe-Spieler bildeten in der Vergangenheit, ähnlich wie die Profis von Bayern München in Deutschland, gemeinsam mit ausländischen Legionären das Rückgrat des türkischen Nationalteams. Torhüter Volkan Demirel und Mittelfeld-Regisseur Emre Belözoglu sind seit Jahren tragende Säulen der Mannschaft.

Doch auch ihre Zukunft ist ungewiss. Denn noch weiß niemand, was mit Fenerbahçe geschieht. Ob es wirklich zum Zwangsabstieg kommt, ist offen. Der Club hat dennoch bereits einige seiner ausländischen Stars verkauft, ihr Vertrag gilt nicht für die zweite Liga. Zwar hat der Verband Transparenz versprochen. Doch sein Präsident war zuvor Chef der Frauen-Volleyball-Abteilung von Fenerbahçe und Untergebener des verhafteten Präsidenten Yildirim. Eine schwierige Konstellation.

"Mich interessiert die Süper Lig nicht mehr"

Die Fans wenden sich angewidert ab. "Wir haben die Lügen, den Betrug satt", sagt der türkische Politologe und Fußball-Essayist Tanil Bora im Gespräch mit SPIEGEL ONLINE. Der Verband und die Clubs hätten Aufklärung versprochen. Doch sie ducken sich weg, spielen auf Zeit. "Mich interessiert die Süper Lig nicht mehr."

Bora hat es durch seine Bücher und seine wöchentliche Kolumne in der Tageszeitung "Radikal" zu einem der angesehensten Fußballexperten des Landes gebracht. Er sagt, der türkische Fußball werde von Oligarchen beherrscht. Die Fußballfamilie sei eine verschworene Gemeinschaft. Ihre Protagonisten schützten sich gegenseitig. Sie hätten in der Vergangenheit von dem System profitiert, gerade finanziell, und sie seien entschlossen, dies auch in Zukunft beizubehalten. Bislang sei nur Fenerbahçe bestraft worden, dabei seien die anderen Clubs genauso korrupt. Hilfe könne nur von außen kommen, von externen Ermittlern oder der Uefa. "Die gesamte Süper Lig müsste absteigen."

Das Interesse an der neuen Amateur-Liga ist gewaltig

In Istanbul haben unterdessen prominente Autoren, Musiker und Geschäftsmänner eine eigene Liga ins Leben gerufen: die Gazoz Ligi. Zu den Gründungsteams gehört die türkische Autoren- und Musiker-Nationalmannschaft um den Verleger Can Öz.

Der 31-Jährige entstammt einer der einflussreichsten türkischen Familien. Sein Urgroßvater war der Gründer des Fußballclubs Galatasaray Istanbul, sein Vater führte den Großverlag Can Kitabevi, der unter anderem die Nobelpreisträger Gabriel Garcia Marquez und Günter Grass publiziert. Öz hat den Verlag nach dem Tod des Vaters vor sechs Jahren übernommen und gilt heute als einer der wichtigsten Intellektuellen des Landes. Zusammen mit dem Fußball-Kommentator Bagis Erten verantwortet er die neue Amateur-Liga.

Das Interesse der Öffentlichkeit ist gewaltig. Obwohl keines der Teams einen Profi unter Vertrag hat und das Niveau kaum an das der deutschen Oberliga heranreicht, werden Spiele im Fernsehen übertragen, treten Spieler in Talkshows auf.

In der Türkei ist nach dem Manipulationsskandal die Sehnsucht nach neuen Helden groß; Helden wie Harun Tekin, Frontmann der Rockband Mor ve Ötesi, oder der Schauspieler Cansel Elçin - beide Spieler der Ayazma, der türkischen Autoren-und -Musiker-Nationalmannschaft.

Am Donnerstag spielte die Ayazma vor mehreren hundert Zuschauern im Beylerbeyi Stadion in Istanbul gegen die deutsche Autoren-Nationalmannschaft. Das türkische Staatsfernsehen und Al-Dschasira berichteten. Die Partie endete 3:2 - für die Türkei.

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