Ausnahmestürmer Greaves Der besoffene Beau

Ex-Profi Greaves: "Ich bin ein Profifußballer. Ich bin Alkoholiker"
Foto:Evening Standard/ Getty Images
Das Wichtigste vorweg: Jimmy Greaves lebt. Ein gemütlicher Großvater von 72 Jahren ist er, der seinen Haarkranz unter einer labbrigen Schirmmütze verbirgt. Nicht aus Eitelkeit, sondern um sich keinen Sonnenbrand auf der Glatze zu holen. Greaves freut sich ganz offenbar über die Jahre, die ihm noch bleiben. Mögen es noch möglichst viele sein.
Kaum vorstellbar, dass dieser urgemütliche Mann einmal der beste Stürmer Englands, wenn nicht Europas war: sehnig, pfeilschnell, blitzgescheit. Dass er mehr als 400 Tore in 600 Spielen schoss, für Tottenham, Chelsea und West Ham. Dass er Weltmeister 1966 wurde (auch wenn er im Endspiel verletzt fehlte). Dass er einer der bestaussehenden Burschen im gesamten Königreich war, ein Beau, der als Werbemodel jedes Rasierwasser zum Kassenschlager gemacht hätte. Dass er aber auch soff wie ein Loch, immer mehr, flaschenweise, bis ins Delirium.
Kaum vorstellbar, dass Jimmy Greaves, dieser vitale Opa mit Plauze und Schnauzbart, längst tot sein müsste. Er selbst war es, der sich vor dem frühen Ableben bewahrte, indem er sich seine Krankheit öffentlich eingestand. "Ich bin Jimmy Greaves. Ich bin ein Profifußballer. Ich bin Alkoholiker." So beginnt seine Biografie "Greavsie", die, 1978 erschienen, erstmals die Saufkultur unter britischen Fußballern aufs Schonungsloseste sezierte.
Wodka in Orangen: So überbrückte Greaves den Tag
Hier wurde das, was jahrzehntelang als "dritte Halbzeit" folklorisiert worden war, das obligatorische Feuchtfröhlichsein im Kreise der Sportskameraden, als tödliche Gefahr für das Leben jener Gewohnheitstrinker dargestellt, zu denen auch Greaves gehörte. Um die Stunden zu überbrücken, bis er endlich den Pub entern konnte, spritzte er sogar Wodka in Orangen, die er in der Umkleidekabine in sich hineinfraß. Ein Trick, der schon Hollywood-Star Errol Flynn ins Grab gebracht hatte.
Wie es eigentlich kommt, dass so viele britische Profis vor und nach ihm an der Flasche hingen, und wie es kommt, dass er dennoch eine solch rasante Karriere hinlegte, erklärt Greaves in seiner Lebensbeichte nicht. Er ist ein Erzähler, kein Erklärer, seine Geschichte muss als warnendes Beispiel reichen.
Aber vielleicht hängt beides, sein Aufstieg und Fall, ja auf so einfache Weise zusammen, dass es da gar nichts mehr zu analysieren gibt: Stammspieler bei Chelsea mit 17, Torschützenkönig und Nationalspieler mit 19, das hundertste Ligator mit 21, das zweihundertste mit 23 - die vielen Biere und das Aufgehobensein in einer Runde erfolgreicher junger Männer halfen einfach, nach der aufgeputschten Stimmung eines wichtigen Spiels emotional wieder runterzukommen und die innere Ausgeglichenheit wiederzuerlangen.
Sein Sauf-Kollege starb an Krebs
Abgesehen von einem kurzen Gastspiel beim AC Mailand in der Saison 1961, hatte Greaves überall seine Saufkumpane, etwa Peter Sillett, seinen Lehrmeister in der "drinking school" von Chelsea: "Big Peter war einer der herausragenden Charaktere des Teams. Und was für ein Trinker!", schreibt er in seiner Biografie. "Er konnte die Pints versenken, als ob am nächsten Tag die Sonne nicht mehr aufgehen würde."
Für Sillet ging sie 1998 tatsächlich nicht mehr auf, er starb an Krebs. Greaves selbst blickte bereits in den siebziger Jahren in die ewige Nacht. Nach seinem Karriereende lebte er regelrecht in seinem Stamm-Pub, außerhalb der Öffnungszeiten betrank er sich allein vorm Fernseher. An einem Sonntagmorgen im Februar 1978 goss seine Frau Irene heimlich allen Wodka, den er im Haus versteckt hatte, in den Ausguss.
Als er den Notstand bemerkte, kroch er im Morgenmantel auf die Straße, kramte in der Mülltonne und lutschte an der ersten Flasche, die ihm in die Hände fiel. Sie war leer. Heulend und zitternd lag Jimmy Greaves, der größte Stürmer seiner Zeit, auf dem Bürgersteig vor seinem Haus. Als er nach ein paar Tagen wieder zu sich kam, beschloss er, ein Buch zu schreiben. Seine Geschichte. Getrunken hat er nie wieder einen Tropfen.
Anmerkung der Redaktion: Nach Hinweisen auf mögliche Manipulationen von Anfang 2019 wird dieser Text derzeit vom SPIEGEL überprüft.