Goretzka und Kimmich in der Nationalelf Es ist jetzt ihre Mannschaft

Gegen Rumänien gab es die Thomas-Müller-Show. Als Joker traf er in der WM-Qualifikation zum Sieg. Aber die Geschichte des Spiels ist eine andere: Sie dreht sich um Joshua Kimmich und Leon Goretzka.
Aus dem Volksparkstadion berichtet Jörn Meyn
Joshua Kimmich (l.) und Leon Goretzka feiern den späten Sieg gegen Rumänien

Joshua Kimmich (l.) und Leon Goretzka feiern den späten Sieg gegen Rumänien

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FABIAN BIMMER / REUTERS

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Hansi Flick war etwas verstimmt. Heiser sprach der Bundestrainer über den späten 2:1-Sieg gegen Rumänien in der WM-Qualifikation. Manchmal brach die Stimme ab. Es war einer der ersten kalten Herbstabende des Jahres in Hamburg, und Flick hatte seine Stimmbänder in dieser Partien etwas mehr strapazieren müssen als erwartet.

Aber interessanter war ohnehin das, was Flick nicht sagte.

Der 56-Jährige sollte über Thomas Müller sprechen. Den Münchner Angreifer hatte Flick nicht wie vermutet in die Startelf gestellt. Erst 23 Minuten vor Ende wechselte er Müller ein. Und prompt traf der 32-Jährige nach einem Eckball zum Sieg. Ein Treffer, den Joshua Kimmich später mit »alles andere als Glück« beschrieb. Einstudiert mit dem neuen Standardtrainer, kühl vollstreckt von Müller. Plötzlich war Müller der große Gewinner dieses Abends. Und das bei seinem ersten Auftritt in der Nationalelf, seit Müller im EM-Achtelfinale gegen England in Wembley vor drei Monaten die große Ausgleichschance frei vor dem Tor vergeben hatte . Damals war das Turnier-Aus besiegelt, Müller war einer der großen Verlierer der EM.

Was er also zu diesem Comeback-Müller sage, wurde Flick gefragt. Der aber ging darauf gar nicht ein. »Wissen Sie, Leon war der Initiator des Ausgleichstreffers. Und auch beim Siegtor war er beteiligt«, sagte Flick über Mittelfeldspieler Leon Goretzka. »Diese Überzeugung, der Wille, dieses Spiel noch umzubiegen, da war Leon heute ein großes Vorbild für uns.«

Thomas Müller (r.) trifft zum 2:1 gegen Rumänien

Thomas Müller (r.) trifft zum 2:1 gegen Rumänien

Foto: Matthias Koch / imago images/Matthias Koch

Hansi Flick ist kein begabter Redner. Jedenfalls nicht vor der Presse. Aber ihm ist bewusst, was seine Worte auslösen können. Das war schon als Trainer des FC Bayern so, in der Nationalelf ist es mindestens ähnlich. Hätte Flick nun über Müller geschwärmt – dass er ihn grundsätzlich toll findet, ist bekannt aus Münchner Zeiten –, es hätte nach der großen Müller-Show nun die große Müller-Diskussion gegeben. Kann sich Flick einen Müller überhaupt als Joker leisten? Braucht diese Mannschaft in der Neufindungsphase nicht besonders diesen ewig umtriebigen Thomas Müller?

Also schwärmte Flick nicht über Müller. Und er hatte neben der Sicherung des Kollektivgedankens gute Gründe dafür.

Es gibt Spiele, die haben eine eindeutige Geschichte. Und dann gibt es welche, deren Ende zwar einprägsam ist wie die Pointe eines guten Witzes, denen aber eigentlich eine ganz andere, etwas verborgenere Erzählung zugrunde liegt. So war es auch gegen Rumänien.

Müllers Comeback war nur die Pointe, aber die eigentliche Geschichte dieses Spiels war die endgültige Machtübernahme zweier anderer Spieler in diesem Team: Leon Goretzka und Joshua Kimmich.

Das Ende der Kroos-Mannschaft

Jahrelang war die deutsche Nationalelf geprägt von Toni Kroos im Mittelfeld. Er war ihre Mitte, sein Puls war ihr Puls. War er Weltklasse, war sie es auch. Spielte er behäbig, fehlte ihr oft Zug nach vorn und nach hinten zugleich. Wer wissen wollte, wie es der deutschen Nationalelf geht, der musste im Spiel nur auf Kroos achten. Es war nicht die Mannschaft des früheren Bundestrainers Joachim Löw, es war eine Kroos-Mannschaft.

Kroos hat nach der enttäuschenden EM seine Nationalelfkarriere beendet – und entstanden ist ein Machtvakuum im Zentrum.

Kimmich hatte schon neben Kroos die Rolle des Kronprinzen beansprucht. Dass ihn Löw aber bei der EM aus dem Mittelfeldzentrum entfernte und auf die rechte Abwehrseite stellte, zeigte auch, dass er den Münchner, wenn es hart auf hart kommt, im Zentrum für ersetzbar hielt.

Wer am Freitagabend gegen Rumänien sehen wollte, wie es der deutschen Nationalelf geht, der musste nur auf Joshua Kimmich achten. Der 26-Jährige lag in der ersten Halbzeit viel mit Schmerzen am Boden. Er wurde mehrfach in die Wade getreten. Die Rumänen setzten ihm und der deutschen Elf zu. Seine sonst oft gefährlichen Chipbälle hinten in die Abwehr, die Pässe in die Tiefe, sie kamen kaum.

Das Bild der ersten Hälfe war ein verzweifelter Leroy Sané, der immer wieder in die Freiräume starten wollte, aber kein Ball kam.

160 Ballkontakte, 143 Pässe, vier Torschussvorlagen

Dies änderte sich in der zweite Hälfe. Flicks Elf suchte Kimmich immer stärker, und er riss das Spiel an sich. Laut der Datenwebsite whoscored.com  hatte Kimmich 160 Ballkontakte (die gesamte rumänische Mannschaft kam auf rund 420). 143 Pässe spielte Kimmich (bei einer herausragenden Erfolgsquote von fast 91 Prozent), deutlich mehr als jeder andere auf dem Feld. Vier sogenannte »key passes« gab er ab, also Zuspiele, die zu Torschüssen führen. Alles Topwerte.

Nun kann man sagen, dass dieser enorme Einfluss Kimmichs auf das Spiel mit seiner Funktion als Gestalter im zentralen, defensiven Mittelfeld zu begründen ist. Aber das allein trifft es nicht. Kimmich schlug jeden Freistoß und jede Ecke (und leitete damit den Siegtreffer von Müller ein). Er hätte auch den Elfmeter in Hälfte eins ausgeführt, hätte ihn der Schiedsrichter nicht zurückgenommen.

Aber was noch viel wichtig war: Er gab der Mannschaft den richtigen Puls, um doch noch zu gewinnen.

Einmal in der zweiten Hälfe brüllte Kimmich den Linksaußen Sané nach einem Dribbling ohne Ertrag an: »Spiel, Mann!« Und er schaute dabei grimmig wie ein Rocker, dem einer das Motorrad umgeworfen hatte. Es gibt ja ohnehin die Erzählung über Joshua Kimmich, dass da ein kleiner Mann über großen Ehrgeiz verfügt. Aber an diesem Abend übertrug er das auf die Restmannschaft. Sein Siegeswille wurde ihrer. Er machte die Nationalelf zu einer Kimmich-Mannschaft.

Das Powerhaus der Nationalelf

Das Bild der zweiten Hälfte war ein brüllender Joshua Kimmich direkt nach dem Abpfiff. Die Bizeps gespannt, schrie er Goretzka vor Freude an und umarmte ihn länger, als man das nach einem Sieg gegen den Weltranglisten-42. Rumänien erwarten würde.

Seine Elf sei »sehr gierig« gewesen, das Spiel noch zu gewinnen, lobte Flick. Es gehöre zu ihrer Entwicklung dazu, »dass man ein Spiel, in dem es nicht so läuft, voller Begeisterung erfolgreich beendet. Mit Mentalität.«

Dass Kimmich irgendwann der Spiritus Rector dieser Mannschaft, ihre Mitte, sein würde, das hatte man lange schon geahnt. Was aber bisher eher selten zum Tragen kam: Wie sehr sie von der Doppelsechs Kimmich/Goretzka profitieren kann.

Leon Goretzka (l.) gegen Rumänien: »Ein großes Vorbild für uns«

Leon Goretzka (l.) gegen Rumänien: »Ein großes Vorbild für uns«

Foto: FOCKE STRANGMANN / EPA

Beim FC Bayern bilden beide gerade eines der besten Mittelfeldduos der Welt. Dynamik, Wille, Technik, Spielintelligenz und sogar Torgefahr sind dort vereint. Aber beim DFB gab es jenes Pärchen als Powerhaus der National trotzdem nur selten. Auch wegen der Dominanz von Kroos.

Flick hat das nun geändert. Kimmich und Goretzka sind wie beim FC Bayern im vergangenen Jahr seine Vertrauensleute im Maschinenraum seiner Elf. Schon beim 6:0 gegen Armenien und beim 4:0 gegen Island im September bildeten sie die Doppelsechs in einem 4-2-3-1-Systems. Und es ist davon auszugehen, dass gegen Nordmazedonien am Montag in Skopje (20.45 Uhr; TV: RTL), wenn das DFB-Team die vorzeitige Qualifikation für die WM in Katar schaffen kann (dazu darf Armenien nicht gegen Rumänien gewinnen), das Herz dieser Mannschaft wieder Kimmich/Goretzka heißen wird.

Gegen Rumänien initiierte Goretzka den Ausgleich mit einem Dribbling an die Strafraumgrenze. Das 2:1 von Müller bereitete er per Kopfballverlängerung vor. Insgesamt drei »key passes« spielte er. Topwert hinter Kimmich.

Joshua Kimmich und Leon Goretzka sind schon seit 2016 beziehungsweise 2014 Nationalspieler. Sie gehören mit 63 und 39 Länderspielen zu den Erfahrensten im Team. Aber erst jetzt, da mit Hansi Flick eine neue Zeit angebrochen ist, scheinen sie die Macht endgültig übernommen zu haben.

Es ist jetzt ihre Mannschaft.

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