Nationalmannschaft "Die Bedeutung der Hymne hängt vom Zeitgeist ab"

Deutschland - Saudi-Arabien (8. Juni 2018)
Foto: THILO SCHMUELGEN/ REUTERSNach einem SPIEGEL-ONLINE-Kommentar über Pfiffe gegen Ilkay Gündogan und Kritik an Mesut Özil bekam die Redaktion viele Leserzuschriften. Die meisten störten sich nicht nur daran, dass die beiden Spieler den türkischen Präsidenten zu einem PR-Termin getroffen haben. Mindestens genauso empörend fanden sie, dass die beiden die deutsche Nationalhymne nicht mitsingen.
Der Psychologe Professor Ulrich Schmidt-Denter hat sich an der Uni Köln lange mit nationaler Identität beschäftigt. In einer Vergleichsstudie hat er von 1999 bis 2015 unter anderem untersucht, wie wichtig nationale Symbole wie die Nationalhymne für die Deutschen und andere Länder sind.
SPIEGEL ONLINE: Herr Schmidt-Denter, wozu braucht man eigentlich Nationalhymnen?
Ulrich Schmidt-Denter: Der Nationalstaat repräsentiert sich ja wie eine Familie: Man gehört zusammen. Um diese sinnbildliche Verwandtschaft herzustellen, braucht man gewisse Symbole wie die Flagge oder eben die Nationalhymne. Sie hat einen besonders hohen Stellenwert, weil Musik stärker an die Emotionen heranreicht als etwa die Verfassung.

Prof. Dr. Ulrich Schmidt-Denter lehrt und forscht an der Universität Köln im Bereich Entwicklungs- und Erziehungspsychologie. Einer seiner Schwerpunkte ist die Identitätsentwicklung im interkulturellen Vergleich.
SPIEGEL ONLINE: Was hat die Hymne, was die Verfassung nicht hat?
Schmidt-Denter: Gemeinsame Rechte sind natürlich auch ein verbindendes Element, aber sie sind zu abstrakt. Darauf beziehen sich eher Intellektuelle. Für den normalen Menschen reicht das nicht aus. Man braucht auch etwas fürs Gefühl, da sind Lieder sehr wirkungsvoll. Jeder kann direkt von einer Melodie ergriffen sein. Musik gleicht die Menschen seelisch aneinander an, zumindest für einen Moment. Nationen brauchen Hymnen auch, um Krisen zu überwinden. Etwa im Krieg. Die meisten Hymnen in Europa sind Revolutionslieder, etwa die Marseillaise. Sie sind so geschrieben worden, dass sie vor einem Kampf Kraft vermitteln.
SPIEGEL ONLINE: Oder vor einem Fußballspiel. Viele Deutsche wünschen sich, dass alle Spieler die Hymne mitsingen. Warum ist sie ihnen so wichtig?
Schmidt-Denter: Der Wunsch nach dem Nationalen ist eine Reaktion darauf, dass man globale Bedrohungen stärker wahrnimmt als früher. Das ist ja derzeit überall auf der Welt zu beobachten. Und auf Bedrohungen reagiert der Mensch mit Zusammenhalt. Die Anthropologen sagen: Als Individuum ist der Mensch ein Mängelwesen, nur der soziale Verbund sichert das Überleben.
SPIEGEL ONLINE: In der Nationalmannschaft von 1974 sangen Franz Beckenbauer oder Gerd Müller nicht mit, als die Hymne abgespielt wurde. Das hat keinen gestört.
Schmidt-Denter: Damals war der Zeitgeist ein ganz anderer. 1968 war nicht weit weg, und es war cool, sich dem Establishment entgegenzustellen. Die Nationalsymbole waren die Symbole der Eltern, das lehnte man ab. Viel lieber wollte man Individuum sein, Eigenständigkeit demonstrieren.
SPIEGEL ONLINE: Unterstellen wir den Spielern von damals da nicht ein bisschen zu viel politisches Feingefühl?
Schmidt-Denter: So etwas passiert ja unbewusst. Die Akzeptanz von nationalen Symbolen unterliegt immer epochalen Schwankungen. Und so hängt auch die Bedeutung der Hymne vom Zeitgeist ab. Bei der WM 1990 sang die Nationalelf wiederum besonders inbrünstig mit. Es war die Zeit der nationalen Hochgefühle im Zuge der deutschen Vereinigung, das hat die deutsche Mannschaft damals offensichtlich bewegt.
SPIEGEL ONLINE: Im Jahr 2018 sieht die Nationalelf ganz anders aus als damals: Es sind Deutsche mit Migrationshintergrund dabei, manche haben zwei Pässe.
Schmidt-Denter: Und deswegen achtet man bei ihnen auch besonders darauf, dass sie durch das Singen der Nationalhymne ganz klar ein Bekenntnis zur Nation abgeben. Dieser Wunsch ist nichts spezifisch Deutsches. Auch die Franzosen haben in dem Zusammenhang richtige Identitätskrisen hinter sich: Etwa als 2001 in Paris die französische Nationalmannschaft gegen Algerien spielte. Damals sangen viele Jugendliche algerischer Abstammung, die ja nominell Franzosen sind, die algerische Hymne im Stadion mit - aber nicht die Marseillaise. Darauf gab es einen Riesenwirbel in den Zeitungen, man fühlte sich verraten.
SPIEGEL ONLINE: So wie sich viele Deutsche von Özil und Gündogan verraten fühlen?
Schmidt-Denter: Vielleicht. Die waren ja immer als Symbole für eine gelungene Integration verkauft worden, sodass man sich jetzt getäuscht sieht. Man denkt: Das sind doch eigentlich welche, die zu uns halten müssen. Und was sieht man? Sie treffen sich mit Erdogan und singen nicht mal die Hymne. Sie sind offensichtlich mit ihrer Seele eigentlich der Türkei verbunden.

Ilkay Gündogan
Foto: THILO SCHMUELGEN/ REUTERSSPIEGEL ONLINE: Woran könnte das liegen?
Schmidt-Denter: Sowohl die Ablehnung als auch das vehemente Einfordern von Bekenntnissen zur Nation haben im Grunde dieselbe Ursache: Den viel zu verkrampften Umgang mit der eigenen nationalen Identität. Auch wenn man in den vergangenen Jahren immer mehr Schwarz-Rot-Gold in deutschen Straßen sieht: Die Flagge wird ja nach jeder WM meist wieder eingerollt. In den USA weht sie das ganze Jahr über im Garten.
SPIEGEL ONLINE: Diese Vorsicht ist in Deutschland ja auch gerechtfertigt: Die Huldigung des Nationalen ist hier historisch belastet.
Schmidt-Denter: Erinnerungskultur und positive Belegung von Nationalität schließen sich nicht per se aus. Ich finde: Man sollte die Dauerproblematisierung nationaler Identität hierzulande deutlich zurückfahren. Und das Positive auch mal betonen.
SPIEGEL ONLINE: Wie sieht denn ein positiver Nationalismus aus, einer, der nicht ausgrenzt?
Schmidt-Denter: Die WM 2006 zum Beispiel, das war ein großes gemeinsames Fest mit Gästen aus aller Welt. In einer Studie haben wir Jugendliche mit und ohne Migrationshintergrund befragt, vor und nach der WM. Das Ergebnis: Sowohl Patriotismus als auch Toleranz haben zugenommen. Das schließt sich also nicht aus. Und wir haben festgestellt: Gerade Jugendliche mit Migrationshintergrund haben ein starkes Bedürfnis nach nationaler Identität. Nach etwas, das ihnen Stolz vermittelt, Selbstbewusstsein. Sie können nichts mit der Aussage anfangen, dass man nur auf seine eigene Leistung stolz sein kann. Viele kommen aus kollektivistischen Kulturen, sie wollen auch stolz sein auf die Gruppe.
SPIEGEL ONLINE: Das heißt: Die Nachfrage ist da, aber das Angebot der Deutschen ist nicht attraktiv genug?
Schmidt-Denter: Jedenfalls stößt die deutsche Art der nationalen Identitätsvermittlung viele ausländische Jugendliche ab. Sie macht es ihnen schwer, sich mit Deutschland zu identifizieren. Und insbesondere junge Türken wenden sich von daher eher einer türkischen Identität zu. Die sie stark idealisieren, klar. Aber wenn es bei Erdogan Nationalstolz zu kaufen gibt und bei den Deutschen nur Schuld, Scham und Befangenheit, dann muss man sich nicht wundern, wenn beim ersten Kiosk die Schlange länger ist als beim zweiten.