Hertha-Pleite in der Relegation Dieser Klub hat keine Kraft mehr

Lucas Tousart macht eine typische Hertha-Geste
Foto: Filip Singer / EPADieser Artikel gehört zum Angebot von SPIEGEL+. Sie können ihn auch ohne Abonnement lesen, weil er Ihnen geschenkt wurde.
In der S-Bahn Richtung Olympiastadion erkundigten sich schon vor dem Spiel die Fans von Hertha BSC bei ihren Sitznachbarn, die eindeutig als HSV-Anhänger erkennbar waren: »Wie ist denn so das Stadion in Sandhausen?« Mit der Vorahnung, dass sie künftig die Reisen in die Zweitligaorte antreten müssen, die die leidgeprüften Hamburger in den vergangenen vier Jahren kennenlernten.
Fans haben ein gutes Gespür für die Stimmung rund um den Verein, und die gedrückte Atmosphäre in der S-Bahn war ein Anzeichen dafür, dass zuletzt Anflüge von Resignation den Berliner Noch-Erstligisten anwehten – statt wilder Entschlossenheit, wie es vor einem so brisanten und wegweisenden Relegationsduell mit dem Hamburger SV angebracht gewesen wäre.
Die dann folgenden 90 Minuten, das frustrierende 0:1 im eigenen Stadion gegen den Zweitliga-Dritten, war dann die Zusammenfassung dieser Stimmung, ein Panoptikum der gesamten Saison. Spiegelbild einer kompletten Verunsicherung. Ein Team, das keine Kraft mehr aufbrachte, sich zu wehren, das nur noch in Richtung Abstieg stolpern kann.
Magath macht weiter in Zuversicht
»Wir fahren dennoch nicht chancenlos nach Hamburg. Ich glaube noch daran, dass wir es in Hamburg biegen können«, fuhr Hertha-Trainer Felix Magath auch nach dem Abpfiff die Strategie, die er seit Tagen in der Öffentlichkeit vorführt. Was ihn so optimistisch stimmte, dürfte sein gut gehütetes Geheimnis sein. Die Vorstellung seiner Mannschaft kann ihm keinen großen Anlass dazu gegeben haben.

Auch Stevan Jovetić kann das alles nicht fassen
Foto: Filip Singer / EPAHarmlos in der Offensive, konfus im Mittelfeld, selbst nach dem Rückstand ohne erkennbares Anrennen, mit Jungspunden in der Mannschaft, die mit der Größe dieser Aufgabe überfordert schienen.
Der dänische Torwart Oliver Christensen musste ausgerechnet in diesem Millionenspiel sein Debüt geben, weil alle drei in der Hierarchie vor ihm rangierenden Schlussmänner ausfielen. Dass er bei dem einzigen Treffer des Abends durch den Hamburger Ludovit Reis, den man ebenso als gewollten Geniestreich wie als abgerutschte Flanke interpretieren kann, nicht glücklich aussah – wer mag ihm dafür die Schuld geben?
Typisch Relegation
Man kann den Spielern ohnehin wenig vorwerfen, dem HSV sowieso nicht, der sich nach dem Vorsprung sogar zeitweilig in Fußball versuchte. Aber über weite Strecken war es ein schwaches, sogar sehr schwaches Spiel, teilweise nur schwer mitanzusehen.
Ein Spiel, wie es die Relegation in Reihe produziert. Weil die Angst vor dem Verlieren in diesen Duellen, in denen so viel auf dem Spiel steht, jegliche Kreativität auffrisst. Noch am Samstag bei der Hertha-Partie in Dortmund hatte Magath nach eigenem Bekunden »zwei Bundesligisten gesehen«. Diesmal sah er zwei Zweitligisten.
»Völlig losgelöst von der Erde« hatte der Stadion-DJ vor der Partie aufgelegt, aber Peter Schillings »Major Tom« war der falscheste Titel, den man spielen konnte. Den Spielern schienen kleine kalte Klötze aus Blei an den Beinen zu hängen, die alle Spielfreude hemmten, das Gegenteil von losgelöst.
HSV-Fans nahmen ihre alten Plätze ein
Und während zeitgleich in Frankfurt mit den Europa-League-Siegern am Römer die vermutlich größte Fußballsause in Deutschland seit dem WM-Erfolg 2014 gefeiert wurde, erinnerte parallel die Partie in Berlin daran, dass es im Fußball nicht nur Heldengeschichten, sondern auch die anderen Dinge gibt: Biederkeit, Handwerk, Gebolze.

Die Nacht der Feuer für die HSV-Fans
Foto: Filip Singer / EPADem HSV und seinen Fans wird das alles vollkommen gleichgültig gewesen sein. Nach vier mageren Jahren nahmen die Fans wieder ihre angestammten Plätze im Gästeblock am Marathontor ein, es war ein Bild, das fast familiär aussah. Genau da gehörten sie hin, der HSV gehört in die Bundesliga.
Sie sangen ihr »Hier kommt Hamburg«, brannten pflichtschuldig ihre Bengalos ab und sahen zudem eine eigene Mannschaft, die eher an einen Erstligisten erinnerte als die Berliner. Trainer Tim Walter sagte nach dem nun sechsten Pflichtspielerfolg nacheinander: »Wir genießen das Ganze, weil wir es uns verdient haben. Das ist das Schöne, die Euphorie nehmen wir mit.« Mit nach Hamburg am Montag zum alles entscheidenden Rückspiel.
Wie vor zehn Jahren
Ganz anders ist die Gemütslage bei der Hertha. Der gesamte Ablauf mahnt doch so sehr an die Saison vor zehn Jahren, als Hertha zum letzten Mal abstieg. Auch damals war es die erste Zeit eines starken Sportverantwortlichen, damals Michael Preetz, jetzt Fredi Bobic, der sich im Herbst vom Trainer trennte, damals Markus Babbel, jetzt Pál Dárdai, weil der Klub mehr wollte.
Auch da gab es einen glücklosen Zwischentrainer, damals Michael Skibbe, jetzt Tayfun Korkut, der das Team keinen Deut voranbrachte, es folgte der ausgeworfene Rettungsanker nach dem Trainer-Routinier, damals Otto Rehhagel, jetzt Felix Magath, und es endete in der Relegation. Und in einem großen Schlamassel.
Diese Gespenster werden jetzt wieder beschworen, in den zehn Jahren hat sich bei Hertha freilich vieles, fast alles verändert, aber es hat dem Klub nicht gutgetan. All die Aufregungen, all die Nebenkonflikte abseits des Platzes, all die Rempeleien zwischen Präsident und Investor, man hat das Gefühl, das alles hat Hertha ausgelaugt, ausgedörrt. Es war alles zu viel.

Verzweiflung auf der Hertha-Bank
Foto: IMAGO/Sebastian Räppold / Matthias Koch / IMAGO/Matthias KochDreimal hätte man sportlich in den Vorwochen den Klassenerhalt in der Liga sicher machen können, dreimal fehlten Minuten. Die Mannschaft ließ genau das vermissen, was man eigentlich Magath zugetraut hatte. Er sollte das Team stark reden, mit all seinem Arsenal an Psychotricks aus Jahrzehnten, am Ende war es stattdessen nur noch schwach, müde, unsicher. Auch Felix Magath ist kein Gesundbeter.
Wer traut es ihnen noch zu?
Noch ist die Entscheidung nicht gefallen, noch kann Hertha alles noch drehen, aber nach dem Auftritt von Donnerstag traut man es dieser Mannschaft kaum noch zu, sich dem drohenden Abstieg entgegenzuwerfen, mit Wucht. Wenn der Trainer das bis Montag hinbekäme, wäre das Magaths Meisterstück.
Es wäre annähernd so groß wie die damals sensationelle Meisterschaft mit dem VfL Wolfsburg, fast so groß wie jener magische Moment des 25. Mai vor 39 Jahren, als Magath mit einem genialen Distanzschuss den HSV gegen Juventus Turin zum Europokalsieger schoss.
Seitdem ist Felix Magath eine Ikone. Beim HSV.
Als das Spiel vorbei war, schickten die Hertha-Fans ihr trotziges »Nur nach Hause gehen wir nicht« in den Berliner Nachthimmel. Mit solcher Inbrunst, dass dem Erfinder der Vereinshymne, Frank Zander, die Tränen in den Augen gestanden haben müssen. Und so laut, dass es auch all die noch von Weitem hörten, die vor Enttäuschung schon nach Hause gegangen waren.
In ihren Trikots mit den Namen der alten Helden: Marko Pantelić, Gilberto, Sebastian Deisler, »ja, den hätten wa heute gebraucht«, es waren Spieler mit dem gewissen Extra, das der heutige Kader so gut wie gar nicht mehr zu bieten hat.
Noch einmal die Hymne
Noch einmal war das Stadion mit 75.000 Zuschauerinnen und Zuschauern voll, dieses Olympiastadion, das dann so eindrucksvoll wirkt, wenn es entweder ganz leer oder ganz voll ist. Aber in dieser Stadt der tausend Partys kann es vorerst die letzte für Hertha gewesen sein. Wenn es schlecht läuft, füllt künftig der Stadtrivale Union das Stadion, wenn er dort feixend seine Europapokalabende feiert.
Nur nach Hause gehen sie nicht. Vielleicht aber in die zweite Liga, vielleicht nach Sandhausen, deren Stadion nach Auskunft der HSV-Fans übrigens sehr schön sei. Es liege idyllisch im Wald.
Vielleicht ist es ja genau das, was Hertha BSC braucht. Nach all den Überdrehungen, den Überhitzungen, nach all den Aufgeregtheiten, muss Hertha vielleicht einfach mal in den Wald.