Erkenntnisse des 16. Spieltags Groß geträumt und mit Brummschädel aufgewacht

Mund abputzen, weitermachen: Herthas Jhon Cordoba blieb gegen seinen Ex-Klub Köln torlos
Foto: Rolf Vennenbernd / dpaDer »Big City Club« ist zum geflügelten Wort geworden, manchmal zur Spottvokabel. Lars Windhorst, Investor des Fußball-Bundesligisten Hertha BSC, nutzte den Anglizismus, um seine Ambitionen (und die des Vereins) zu unterstreichen: raus aus dem Bundesliga-Mittelmaß, rein in den Europapokal.
Nach 16 Spieltagen in dieser Saison scheint sich in Berlin allerdings nicht viel geändert zu haben: In der Tabelle steht der Zehnte des Vorjahres auf dem 13. Platz, beim 1. FC Köln – einem Klub, für den es in dieser Saison gegen den Abstieg geht – reichte es lediglich zu einem mühevollen 0:0.
Die sportlichen Ziele sind weit entfernt, der gespielte Fußball ist erstaunlich bieder angesichts von etwa 110 Millionen Euro, die in den vergangenen zwölf Monaten für die Ablösen neuer Spieler in die Hand genommen wurden. Sportlich klaffen Anspruch und Wirklichkeit auseinander – nur eines der letzten sechs Spiele gewannen die Herthaner. Die Erkenntnisse zur Hertha-Krise:
1. Berlin ist nicht die Stadt der Kreativen
Drei Stürmer standen gegen die Kölner in Bruno Labbadias Anfangsformation. Jhon Córdoba, Krzysztof Piatek und Dodi Lukebakio sollten gegen den Abstiegskandidaten für Gefahr sorgen. Das misslang auf ganzer Linie – und kam wenig überraschend. Zwar besitzen alle drei Spieler unterschiedliche Stärken: Piatek ist ein beidfüßig starker Strafraumstürmer, Lukebakio ein Tiefensprinter mit Zug zum Tor, Córdoba ein wuchtiger Wandspieler, der auch hohe Zuspiele verarbeiten kann.
Sie alle eint jedoch, dass sie am liebsten am Ende eines Spielzugs stehen und ihre Fähigkeiten dann am besten einbringen können, wenn ein Mitspieler sie entsprechend einsetzt. Das Problem: Im Kader ist dazu lediglich ein Spieler zuverlässig in der Lage. Matheus Cunha ist mit sechs Treffern Toptorschütze der Berliner, viermal bereitete er Tore vor. Gegen Köln kam Cunha, der zuletzt mit Leistenproblemen pausieren musste, eine halbe Stunde vor Spielende von der Bank. Der Brasilianer war in dieser Zeit an vier Abschlüssen beteiligt, der Bestwert bei Hertha BSC.

Auch Matheus Cunha hatte gegen Köln einen schweren Stand, sorgte aber noch für die meiste Gefahr
Foto: Rolf Vennenbernd / dpaCunha steht im Berliner Spiel für Kreativität, für Überraschung. Gemeinsam mit Dortmunds Jadon Sancho wagt der Angreifer ligaweit die meisten Dribblings pro Spiel (Quelle: whoscored.com). Fehlt Cunha, ist das für die Berliner Offensive eine Katastrophe. Spielt Cunha, löst auch das nicht alle Probleme: Einerseits bleibt auch mit dem brasilianischen X-Faktor eine gewisse Ausrechenbarkeit, andererseits kritisierte Bruno Labbadia Cunha in der Vergangenheit für dessen mangelnde taktische Disziplin.
2. Die Suche nach einer klaren Spielphilosophie läuft noch
Als Coach des VfL Wolfsburg erreichte Bruno Labbadia zuletzt die Europa League, in Berlin ist er im Frühjahr angetreten und es gelang ihm, Hertha BSC innerhalb kürzester Zeit zu stabilisieren. Aber: In seiner Trainerkarriere blieb Labbadia nur in Darmstadt (2003-2006) und in Stuttgart (2010-2013) länger als zwei Jahre.
Entsprechend pragmatisch entwickelte Labbadia seine Teams bislang nach vorn. Dabei stünde es gerade Hertha BSC gut zu Gesicht, eine tragfähige Spielphilosophie zu entwickeln: Kleine Klubs wie der SC Freiburg oder der erfolgreichere Stadtrivale Union Berlin machen über Kontinuität und eine klare sportliche Idee wirtschaftliche Nachteile wett.
Noch ist nicht gesagt, dass Labbadia das nicht auch gelingen kann. Der 54-Jährige ist der fünfte Hertha-Trainer in den vergangenen zwei Jahren; ein Fundament, auf das er hätte aufbauen können, gab es kaum. Aber: Noch fehlen vor allem im Ballbesitzspiel die Abläufe, um gefährlich vor das gegnerische Tor zu kommen. Allein über die individuelle Klasse werden die Berliner die Qualifikation für den europäischen Wettbewerb nicht erreichen.
3. Bei Standards fehlt Hertha die Qualität
16 Spieltage sind absolviert, einen einzigen Treffer hat Hertha BSC nach Standardsituationen erzielt. Den Spitzenwert der Liga hält Union mit neun Treffern nach ruhenden Bällen. Dabei mangelt es nicht an Körperlänge und Robustheit, mitunter spielte in dieser Saison mit Niklas Stark gar ein nomineller Innenverteidiger als zusätzlicher Abräumer im Mittelfeld.
Auch wenn ein herausragender Schütze im Kader derzeit fehlen mag: Standards lassen sich mit verhältnismäßig wenig Aufwand trainieren, können aber besonders angesichts der großen Leistungsdichte im Bundesliga-Mittelfeld über die Saison gerechnet einen Unterschied von vielen Punkten machen. Auch defensiv haben die Berliner hier Nachholbedarf: Sechs Gegentore nach Standardsituationen sind der zweitschlechteste Wert hinter Schalke 04.
4. Wenig Nachschub aus dem Nachwuchs
Ein weiterer markiger Slogan der Hertha besagt, dass die Zukunft Berlin (und damit dem Klub) gehöre. Konkret bedeutet das: Die Hauptstädter wollen Spieler aus der eigenen Nachwuchsabteilung zur Bundesligareife bringen, am liebsten zu Leistungsträgern machen.
Bis dahin ist der Weg allerdings weit. Aus der Startelf vom Samstag wurde lediglich Linksverteidiger Maximilian Mittelstädt in der eigenen Jugend ausgebildet. Zuletzt verließen die Toptalente der Berliner teils noch vor dem Durchbruch den Verein: Spielmacher Lazar Samardzic schloss sich im Sommer Liga-Konkurrent RB Leipzig an, Innenverteidiger Omar Rekik wechselte Anfang Januar zur U23 des FC Arsenal.
Sechser Arne Maier wurde an Arminia Bielefeld ausgeliehen. Stürmer Jessic Ngankam (20 Jahre) und die Abwehrspieler Luca Netz (17 Jahre) und Márton Dardai (18 Jahre) kamen bereits zu Kurzeinsätzen, aber nicht darüber hinaus. Und das derzeit vielleicht größte Berliner Talent, Innenverteidiger Jordan Torunarigha, sucht nach einer Verletzung des Syndesmosebands noch nach seiner Form.