
Hoffenheim-Trainer Gisdol: Wie einst Ralf Rangnick
Hoffenheim-Trainer Markus Gisdol "Wir nennen es Schwarmintelligenz"
SPIEGEL ONLINE: Herr Gisdol, was fällt Ihnen zum Credo "Ballbesitz ist alles" ein?
Markus Gisdol: Dass es das Credo von Pep Guardiola ist. Und was fällt Ihnen dazu ein?
SPIEGEL ONLINE: Pep Guardiola. Und Markus Gisdol.
Gisdol: Sehr freundlich. Aber ich will uns nicht mit den Bayern vergleichen oder mich mit Pep Guardiola. Die Bayern stehen für Ballbesitz, wir mehr für die Balleroberung.
SPIEGEL ONLINE: Das müssen Sie erklären.
Gisdol: Wir wollen am liebsten auch immer den Ball haben, aber vor allem wollen wir ihn so schnell wie möglich zurück haben, wenn wir ihn verlieren. Dafür versuchen wir, auf dem Feld ein Netz aufzubauen, so dass im Falle des Ballverlusts sofort das Gegenpressing starten kann. Theoretisch könnten wir den Ball auch einfach dem Gegner schenken, indem wir ihn Richtung Eckfahne spielen. Sobald er offensiv denkt, packen wir zu.
SPIEGEL ONLINE: Sie meinen, man verliert den Ball gezielt, um ins Gegenpressing zu kommen? Auch Guardiola hat das in seiner Zeit als Trainer des FC Barcelona angeblich praktiziert.
Gisdol: Das ist eine Möglichkeit. Der Moment, in dem der Gegner den Ball gewinnt; diese ein, zwei Sekunden, in denen er den Schritt nach vorne macht und offensiv denkt: In diesem Augenblick ist die eigene Chance auf eine Tormöglichkeit am größten. Denn wenn du jetzt den Ball zurückgewinnst, ist der Gegner entblößt.
SPIEGEL ONLINE: Ihre Mannschaft macht das vorzüglich, sie hat nach den Bayern die zweitmeisten Tore aller Bundesligisten erzielt: 60 in 27 Spielen. Wissen Sie, wie viele es waren, als Sie vor einem Jahr übernahmen?
Gisdol: Viel weniger.
SPIEGEL ONLINE: Da waren es zum gleichen Zeitpunkt exakt halb so viele. Was haben Sie getan?
Gisdol: Wir haben einige Mechanismen einstudiert. Das war nötig, denn in der Bundesliga sind fast alle Gegner gut organisiert. Da brauchten wir Lösungen.
SPIEGEL ONLINE: Mechanismen wie das Spiel in die Schnittstellen der gegnerischen Abwehr? Kaum eine andere Mannschaft spielt derart viele Steilpässe wie die TSG.
Gisdol: Gegen tiefstehende Gegner ist das das beste Mittel, um die Kompaktheit auseinander zu reißen. Wenn der Pass durchkommt, ergibt sich eine Torchance. Wenn er geklärt wird, ist zumindest neuer Raum gewonnen worden, weil die gegnerische Abwehr nach hinten weichen musste.
SPIEGEL ONLINE: Entscheidend für den Erfolg ist die Abstimmung zwischen Passgeber und Passempfänger. Wie haben Sie die hinbekommen?
Gisdol: Das Geheimnis ist die Wiederholungszahl. Solche Mechanismen haben wir bis zum Erbrechen trainiert. Meine Spieler nerve ich damit, bis sie es nicht mehr hören können. Und das wird auch nicht aufhören. Denn Wiederholungen müssen sein, erst durch sie wenden die Spieler das Trainierte zuverlässig an. Das werde ich immer einfordern, denn das ist die Grundbedingung für unser Offensivspiel. Genau wie es Bedingungen für unser Defensivspiel gibt. Wenn ein Spieler nach einem Ballverlust stehen bleibt und nicht direkt umschaltet, dann gibt es Ärger.
SPIEGEL ONLINE: Die Vertikalität und Schnelligkeit in den Aktionen - es ist gar nicht so lange her, dass Hoffenheim so die Bundesliga dominiert hat.
Gisdol: Es stimmt, damals wurde hier der Fußball der Zukunft gespielt, die TSG war ein Orientierungspunkt für die Liga. Das hat sich mittlerweile natürlich verändert. Wir können nicht sagen, wir wollen heute so spielen, wie vor fünf Jahren gespielt wurde. Wir entwickeln unsere Spielphilosophie weiter.
SPIEGEL ONLINE: Wie sieht diese Philosophie heute aus?
Gisdol: Das Wichtigste ist nach wie vor, den Ball zu gewinnen, um dann schnell zum Abschluss zu kommen. Denn die meisten Tore fallen, wenn der Gegner nicht organisiert ist. Jede Spielsituation setzt dabei einen eigenen Plan voraus, wie sich die Mannschaft den Ball zu holen hat.
SPIEGEL ONLINE: Zum Beispiel?
Gisdol: Manchmal bereiten unsere Stürmer einen Ballgewinn dadurch vor, dass sie den Gegner aus dem Zentrum gezielt auf eine Seite des Feldes lenken. Die restliche Mannschaft erkennt das und reagiert, sofort weiß jeder, was zu tun ist. Wir schieben den Gegner im Verbund zu. Wir nennen das Schwarmintelligenz.

Taktik von 1899 Hoffenheim: Offensiv- und Defensiv-Plan
SPIEGEL ONLINE: Ein sehr überstrapazierter Begriff.
Gisdol: Mag sein. Aber denken Sie an einen Bienenschwarm. Eine Biene allein hat keine Chance gegen einen Elefanten. Ein harmonierender Schwarm kann den Elefanten erlegen.
SPIEGEL ONLINE: Die Mannschaft ist alles, das Individuum nichts?
Gisdol: Im Spiel gegen den Ball gibt es so gut wie keine Kreativität. Alle müssen miteinander funktionieren. Wenn jemand denkt: Heute habe ich eine ganz tolle Idee, wie wir den Ball erobern, und er macht es allein, dann hat er keine Chance.
SPIEGEL ONLINE: Ihr Bienenschwarm fliegt also los. Was passiert dann?
Gisdol: Gutes Pressing löst immer aus, dass der unter Druck gesetzte Spieler den Kopf runternimmt. Der Schwarm fliegt auf dich zu, mit hoher Geschwindigkeit. Da ist es ganz normal, dass du dir nicht den Ball zurechtlegst und Ausschau hältst nach der idealen Anspielstation für einen Traumpass. Der Spieler ist einfach froh, wenn er den Ball wegbekommt. Für die eigene Mannschaft ist dann schon viel erreicht.
SPIEGEL ONLINE: Solche Befreiungsschläge und der daraus resultierende Kampf um zweite Bälle prägen mittlerweile viele Bundesliga-Spiele. Das sieht nicht immer schön aus.
Gisdol: Aber was wäre die Lösung? Den Mitspieler mit einem Kurzpass in Gefahr zu bringen? Wenn es dann zum Ballverlust kommt, brennt es hinten lichterloh. Gegen gutes Pressing gibt es noch keine Ideallösung.
SPIEGEL ONLINE: Täuscht der Eindruck, oder spielen Pressing und Gegenpressing in der Bundesliga eine größere Rolle als in vielen anderen Ligen?
Gisdol: Wenn wir in der Saison-Vorbereitung gegen internationale Mannschaften spielen, kann es schon mal vorkommen, dass die gegnerischen Trainer nach dem Spiel zu mir sagen: Die Art und Weise, wie ihr Pressing spielt, das kennen wir aus unserer Liga nicht.
SPIEGEL ONLINE: Selbst internationale Spitzenteams verzichten auf Pressing. In der englischen Premier League weichen viele Mannschaften zurück, statt vorne zu attackieren.
Gisdol: Das ist das große Problem der englischen Liga. Da versuchen viele, mit halbem Pressing zu spielen. Aber das geht genauso wenig wie halbschwanger zu sein.
SPIEGEL ONLINE: Schwarmintelligenz, Pressing - das klingt alles toll. Aber vor dem Spiel gegen die Bayern müssen wir auch über einen Negativwert reden: Ihre Mannschaft hat 59 Gegentore kassiert, so viele wie kein anderer Bundesligist. Kann sie Ihre Theorie auf dem Platz nicht abrufen?
Gisdol: Es stimmt, dass wir manchmal wild verteidigt haben. Man könnte das geordnetes Chaos nennen. Das haben wir bewusst praktiziert. Die Chance, den Ball zu gewinnen, muss immer höher sein als die, ein Tor zu kassieren. Unsere Spieler haben dabei eine unglaubliche Lust entwickelt, den Gegner zu jagen, zu pressen. Da wollten wir ihnen keine Handschellen anlegen. Die Spieler mussten überziehen, damit sie ein Gefühl bekommen: Wo sind die Grenzen? Diese Erfahrung führt auf lange Sicht zu einer Leistungssteigerung und zu Stabilität.