Ilkay Gündogan im DFB-Team Aus der Tiefe

Ilkay Gündogan
Foto: Swen Pförtner/ dpaIlkay Gündogan floh auf die Toilette. Er schloss sich ein, setzte sich auf den Deckel - dann brachen die schweren Gefühle herein. Wut und tiefe Traurigkeit. Zehn Minuten lang musste sich der deutsche Nationalspieler sammeln, bis er zurück in die Welt heraustrat. Sie sollte fortan für ihn aber eine andere sein.
Anfang Juni 2018 pfiffen deutsche Fans Ilkay Gündogan beim letzten WM-Testspiel gegen Saudi-Arabien in Leverkusen aus - bei seiner Einwechslung und bei jedem seiner Ballkontakte. Als er gefoult wurde, gab es Jubel. Es war die Hochzeit der Affäre um die Fotos von ihm und Mesut Özil mit dem türkischen Machthaber Tayyip Recep Erdogan - die auch Ressentiments gegen Spieler mit einem Migrationshintergrund zutage treten ließ. Die Erdogan-Affäre hat die Nationalelf dann auch in Russland schwer belastet und Gündogan noch lange darüber hinaus.
Er habe Zweifel gehabt, "ob es jemals wieder so werden kann wie früher", sagte der 28-Jährige einige Monate später der "Berliner Morgenpost". "Wenn man von vielen so attackiert wird, von den eigenen Fans ausgepfiffen und von einem deutschen Politiker beleidigt wird, dann macht man sich Gedanken", sagte er. Er habe damals aber auch einen Entschluss gefasst: "Ich will nicht davonlaufen."
Wer Gündogan am Mittwochabend in der Wolfsburger Arena gegen Serbien (1:1) spielen sah, dem muss es so vorgekommen sein, als habe es diese dunkle Passage seiner Karriere nie gegeben. Oder, als hätte sie jemand in einer Toilette hinuntergespült. Gündogan trug ab Beginn der zweiten Hälfte zum ersten Mal die Kapitänsbinde der Nationalmannschaft am linken Arm - in den Farben Schwarz, Rot und Gold. Hatten ihm die Pfiffe in Leverkusen noch alles Selbstvertrauen aus dem Körper gesogen, so schien es, als habe dem Mittelfeldspieler von Manchester City nun dieses kleine Stück Stoff am Oberarm alles zurückinjiziert.

Gündogan war nach einer durchwachsenen ersten Hälfte plötzlich der Verkehrspolizist auf dem Feld: Er zeigte der jungen deutschen Elf nach vorn die Richtung an und stoppte hinten die serbischen Konter. Man stelle sich vor, Deutschland hätte einen Ilkay Gündogan in der Form der zweiten Hälfte in Russland dabeigehabt, wo es ja auch an einer gesunden Mischung von offensivem Drang und defensiver Ordnung gemangelt hat.
Er sei froh, dass seine Mannschaft nach dem 0:1 gegen Serbien noch einmal zurückgekommen sei, sagte Gündogan später. Aber eigentlich hatte er selbst ein viel größeres, persönliches Comeback gefeiert. Dass es dazu kam, hatte auch mit Manuel Neuer zu tun.
Neuer übergibt Gündogan die Kapitänsbinde
"Es war eine Geste von Manu", sagte Gündogan. Als der etatmäßige Kapitän zur Halbzeit ausgewechselt wurde, überreichte Neuer Gündogan in der Kabine die Spielführerbinde. "Das kam unerwartet. Aber ich habe sie mit Stolz entgegengenommen", sagte Gündogan. Der Bundestrainer sah das alles ein wenig nüchterner. Gündogan sei die richtige Wahl gewesen, "weil er einer der Erfahrensten auf dem Platz war", sagte Joachim Löw.
Mit 30 Länderspielen hat Gündogan hinter Neuer (85), Joshua Kimmich (39) und Marco Reus (38) tatsächlich die viertmeisten Partien der aktuellen Nationalspieler bestritten. Mit 28 Jahren war er zudem der älteste Feldspieler in der Startelf. "Ich gehöre jetzt zur alten Riege", sagte Gündogan lächelnd, und das erzählt etwas über die Verjüngung des Teams. Dass Gündogan ein wichtiger Teil davon ist, darüber diskutiert längst niemand mehr.
Es bleibt die Frage, wie man es schafft, in neun Monaten den Weg vom Buhmann zum Ersatzkapitän zu finden. Gündogan hatte sich nach der desaströsen WM zunächst psychologische Hilfe holen wollen, aber schnell gemerkt, dass nur er allein sich aus dem Tief herausnavigieren kann. "Ich glaube, dass es wichtig war, dass ich während der ganz schwierigen Monate weiter versucht habe, mich einzubringen", sagte Gündogan nach dem Serbien-Spiel. "Ich wollte mich charakterlich gut verhalten. Und dann haben die Leute gemerkt, dass ich mich eingliedern will."
Ilkay Gündogan ist jetzt endgültig kein Verstoßener mehr. Er ist jetzt wieder ein ganz normaler, deutscher Nationalspieler.