Jahrhunderttor Sepp Maier und der unsichtbare Treffer

1968 war ein bewegtes Jahr in Deutschland. Studenten protestierten, die Mehrwertsteuer wurde eingeführt - und Sepp Maier kassierte das wohl peinlichste Gegentor seiner Karriere. Dass der junge deutsche Nationaltorwart schluderte, bekam jedoch fast niemand mit. Von Tibor Meingast

Sepp Maier ist der größte deutsche Torwart aller Zeiten. Keiner hat so oft wie er das Tor der Nationalmannschaft gehütet, keiner so souverän seine Räume beherrscht, keiner für so viel prächtige Stimmung in der Mannschaft gesorgt. Wie er das geschafft hat? Unter anderem mit seiner ausgeprägten Fähigkeit, zu vergessen.

Natürlich hat auch der Maier-Sepp dumme Tore kassiert. Das vielleicht dümmste von allen an einem lauen Mainachmittag 1968 in Mailand. Der FC Bayern, Titelverteidiger im Europacup der Pokalsieger, gastierte zum Halbfinale beim AC Milan und verlor, weil sein Torwart sich besonders schusselig anstellte. Doch der beruft sich 36 Jahre später auf Gedächtnislücken: "Ein Tor in San Siro? Daran erinner' i' mi' überhaupt nimmer."

Das Gedächtnis von Franz Beckenbauer funktioniert da viel besser. Er hat sofort alle Details parat, korrigiert den Fragesteller, der einen falschen Torschützen im Kopf hatte ("Nein, das war nicht der Prati, der Sormani war's") - und poltert dann los: "Das war kein Tor, das war eine Tätlichkeit." Genauso sah das auch Sepp Maier - vor dem großen Vergessen. "Sormani ist mit vorgestreckter Sohle eingestiegen, ein klares Foul. Vom Platz hätt' er gehört!", wird der trostlose Torwart damals im "Kicker" zitiert.

"Wenn ich es recht gesehen habe..."

Die beiden Spieler von Bayern München zählen zu den zuverlässigsten Augenzeugen - und zu den ganz wenigen. Denn trotz 70.000 Besuchern im Stadion und einer Live-Übertragung im Fernsehen sah fast niemand den Treffer. Es war wohl das unsichtbarste Tor der Fußballgeschichte. Selbst Gianni Rivera, Milans Mittelfeldstar und keine zwanzig Meter entfernt, verpasste die Szene: "Ich hatte mich umgedreht und lief gerade zurück. Da sah ich meine Mannschaftskameraden jubeln und hörte den Aufschrei im Stadion."

Auch das Fernsehen war nicht im Bilde. Die Regie des italienischen Senders Rai versäumte das Tor, und da es an diesem Tag keine Wiederholung gab (und lange noch keine aus anderen Perspektiven), blieben die Zuschauer auf Schilderungen aus zweiter Hand angewiesen. Der Reporter des ZDF, Rainer Günzler, mutmaßte: "Wenn ich es recht gesehen habe, ist der Ball vom Fuß von Lodetti oder Hamrin abgesprungen." Wirklich hingeguckt hat außer dem brasilianischen Torschützen in diesem Moment niemand; solch einen Torwartfehler hatte keiner auf dem Zettel. Die Szene schien schließlich völlig ungefährlich, und die meisten Blicke waren längst woandershin gerichtet.

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Sepp Maier: Ende einer Legende

Foto: DPA

Sechs Minuten sind in der zweiten Halbzeit gespielt, als Maier - von Sormani außerhalb des Fünfmeterraumes angegangen - eine Ecke Hamrins unterläuft, Pierino Pratis Kopfball fischt Hans-Georg "Katsche" Schwarzenbeck von der Linie. Der Ball kullert zu Peter Kupferschmidt, und der leitet ihn, Jahrzehnte vor der Rückpassregel, aus wenigen Metern an seinen Torwart zurück. Die Situation ist also geklärt, und der Abschlag interessiert fast niemanden; der Fernsehregisseur nimmt ganz folgerichtig Prati ins Bild, der gerade mit seiner Kopfballchance gescheitert ist.

Der Bildbeleg fehlt

Der aber reißt plötzlich beide Arme empor und dreht jubelnd ab. Als Nächstes wird dann ein tobender Torwart gezeigt, den Rainer Ohlhauser und Franz "Bulle" Roth mit Kräften festhalten, damit der Amokläufer sich nicht am portugiesischen Schiedsrichter Garcia vergeht. Auch Beckenbauer und Gerd Müller sind auf demselben Weg, gestikulieren "gestrecktes Bein".

Doch der Portugiese sieht das nicht, ist selbst eilig unterwegs, rempelt Dieter Brenninger um und winkt den ebenfalls aufgeregt mit den Armen rudernden Bayerntrainer Zlatko "Tschik" Cajkovski vom Feld. Der ist später stinksauer: "Das darf einem Nationaltorhüter nicht passieren." Der nämlich, damals 24 Jahre alt, hat mit seinem Abschlag das Bein des Gegners angeschossen, und vorn dort kugelt das Leder ins Tor. Die Kameras der Pressefotografen hatten damals noch keinen Motor, so fehlt der Bildbeleg für diesen kuriosen Treffer.

Als der erste Apparat wieder einsatzbereit ist, hebt Maier gerade die Hand, Sormani dreht ab. Es war gar keine typische Szene für den schmächtigen Brasilianer, der zwischen 1965 und 1970 in Mailand spielte und es bis in die Ruhmeshalle des lombardischen Ausnahmeclubs brachte. 36 Namen listet der Verein dort auf, und zwischen Schiaffino und Trapattoni findet sich Angelo Sormani wieder, obwohl er für Brasilien in gerade mal sieben Länderspielen ebenso bescheidene zwei Tore erzielte.

Chancenlos gegen Pelé

Doch für Mailand hat der Mittelstürmer fünf Titel gewonnen und fünf Dutzend Tore geschossen, das wichtigste im Landesmeisterfinale gegen Ajax Amsterdam im Jahre 1969. Ein "schneller Techniker" sei er gewesen und ein "zurückhaltender Charakter". Der Brasilianer aus Jau begann seine Laufbahn beim nahen FC Santos, konnte sich aber - wie auch in der Seleçao - gegen die Konkurrenz durch den wenige Wochen jüngeren Pelé nie durchsetzen. So landete er 1961 in Italien, spielte für Mantua, den AS Rom, Sampdoria Genua, Mailand und später noch für den SSC Neapel. Meist lief er dabei seinen Gegnern davon, nur am 1. Mai 1968 um kurz nach 18 Uhr, da stand er mal einem im Weg.

Der Brasilianer hatte den Münchener Torhüter genau beobachtet, wie er vorher meist "den Ball beim Abschlag sehr hoch geworfen und dabei nicht immer aufs Spielfeld und nicht auf den Ball und den Raum um ihn herum geblickt hatte". Daraus zog Angelo Sormani seine clevere Konsequenz, an der er selbst nichts Unfaires erkennen mochte: "Ich konnte Maier gar nicht gefährden, weil ich einen Meter von ihm entfernt war und das Bein gar nicht in Richtung auf seinen Körper hob."

Dem pflichtete übrigens Fernsehreporter Günzler bei: "Der Angriff des Italieners auf Maier war sicher ganz korrekt." Nur sind an der Glaubwürdigkeit dieses Zeugen Zweifel erlaubt. Er hatte ja nicht mal den Angreifer richtig identifiziert. Beim 2:0 zwanzig Minuten später hatten weder Günzler noch Gianni Rivera Probleme mit der Wahrnehmung, und wieder sahen die Fernsehzuschauer Prati zuerst jubeln. Der Linksaußen wurde vom Regisseur mit einem wunderbaren langen Pass in den freien Raum geschickt, Schwarzenbeck kam nicht mit, und Sepp Maier bückte sich kaum, gegen den harten Flachschuss ins rechte Eck hatte er keine Chance.

Der Münchener Niederlage in San Siro folgte im Stadion an der Grünwalder Straße ein torloses Rückspiel mit drei Holztreffern, die Bayern waren ausgeschieden. Ihr großer Torwart hatte damals gerade sein achtes von 95 Länderspielen hinter sich, verfügte aber schon über ein erstklassiges Erfolgsrezept: "Ich habe mich nie über ein Gegentor geärgert. Das hab' ich immer gleich vergessen."

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