Boateng vor Bayern-Abschied Mehr als nur ein Weltmeister

Jérôme Boateng steht vor dem Abschied vom FC Bayern
Foto:Matthias Schrader / dpa
Achtundachtzig, das wäre das Maximum. 83 Champions-League-Spiele hat Jérôme Boateng für den FC Bayern bislang bestritten, im besten Fall kämen nun noch fünf weitere dazu. Das erste am Mittwochabend beim Viertelfinal-Hinspiel gegen Paris Saint-Germain (Anpfiff: 21 Uhr, TV: Sky; Liveticker SPIEGEL.de), das fünfte beim Endspiel am 29. Mai in Istanbul. Es wäre nach zehn überaus erfolgreichen, mitunter aber auch wechselhaften Jahren in München Boatengs ganz persönliches Finale, denn danach ist Schluss bei den Bayern. Nach einem Bericht des »Kickers« und Informationen des SPIEGEL wird der Klub den im Sommer auslaufenden Vertrag definitiv nicht verlängern.
So sehr sich die Entscheidung in den vergangenen Wochen bereits angedeutet hatte: Der Abschied des Weltmeisters und zweifachen Triplesiegers sorgt dabei nicht bei allen Beteiligten für grenzenlose Begeisterung. Nicht beim Spieler selbst. Und am allerwenigsten bei Hansi Flick. Denn mit Boateng verliert der Trainer des FC Bayern den nächsten Spieler seines Vertrauens.
Die Beziehung zwischen Boateng und dem Klub war in den vergangenen Jahren eine komplizierte und distanzierte. Karl-Heinz Rummenigge mahnte beim 76-fachen Nationalspieler 2016 mit seiner berühmten »back to earth«-Forderung mehr Bodenhaftung an, Uli Hoeneß riet ihm »als Freund« 2019 gar zu einem Vereinswechsel. Boateng, der damals in losgelöster Entfremdung vom Klub auch die Meisterfeier schwänzte, liebäugelte auch selbst immer wieder mit einem Abschied nach Paris oder zu Juventus nach Turin.
Die Verhandlungen waren teilweise auch weit fortgeschritten, doch zu einem Transfer kam es letztlich nie. Vor diesem Hintergrund erschien es umso bemerkenswerter, dass sich Boateng zuletzt nun wieder sehr wohl fühlte, mit starken Leistungen auf dem Platz überzeugte und mit einem späten Drang zur Sesshaftigkeit gern verlängert hätte. Doch nun wollten die Klubbosse nicht mehr. Und deshalb muss Boateng gehen.
Flicks Vertrauter
Dass Boateng in München in den vergangenen eineinhalb Jahren wieder aufblühte, lag vor allem am Trainer. Die beiden kennen sich seit bald zwölf Jahren, als Flick beim DFB bereits als Co-Trainer unter Joachim Löw arbeitete und Boateng im Oktober 2009 sein Debüt bei der Nationalmannschaft gab. Im Umfeld der beiden hört man viel von gegenseitiger Wertschätzung, Anerkennung und Respekt, von einem engen Vertrauen, das sich mit den Jahren aufgebaut habe, gipfelnd im gemeinsamen WM-Triumph 2014 in Brasilien.
Ein inniges Verhältnis, das sich jetzt beim FC Bayern fortsetzte, als Flick im Sommer 2019 erst als Co-Trainer an die Säbener Straße kam und wenige Monate später nach dem Rauswurf von Niko Kovač als Cheftrainer übernahm. Flick schätzte, wie man hört, den entgegen seinem öffentlichen Image intern sehr ruhigen und sensiblen Boateng; er wusste immer, wie man ihn pflegt, wie man ihn fördert, aber auch fordert. Flick wusste, was er an Boateng hat. Und umgekehrt.

Boateng, hier im Zweikampf mit Stuttgarts Tanguy Coulibaly, ist unter Flick Stammkraft und Leistungsträger
Foto: ANDREAS GEBERT / AFPAuf Fragen zum bevorstehenden Abschied des 32-Jährigen reagierte Flick am Dienstag bei der Pressekonferenz vor dem Spiel gegen Paris eher schmallippig. »Ich weiß nicht, ob ich alles kommentieren muss, was in den Medien steht«, meinte er ob des ungünstigen Zeitpunkts der Abschiedsberichte so kurz vor dem wichtigen Viertelfinale. Auf Nachfrage, ob er nicht ein Mitspracherecht bei der Entscheidung gehabt habe, erklärte er: »Ich möchte nichts dazu sagen, ich weiß auch nicht, wie das an die Medien kommt. Aber jeder weiß, wie ich zu Jérôme stehe, welche Qualität er hat. Er hat eine sehr gute Saison gespielt, auch letztes Jahr schon. Er ist sehr konzentriert auf seinen Job, das ist eine gute Basis, dass er Leistung bringt. Es ist eine gute Sache, wenn man so einen Spieler hat, der erfahren ist und Qualität hat.« Und demnach keine gute Sache, wenn man so einen Spieler bald nicht mehr hat.
Flick hätte Boateng sicher gern weiter in München gesehen. Zumindest mit einem Vertrag für ein weiteres Jahr, um als gestandene Führungspersönlichkeit den jungen Neuzugang Dayot Upamecano, 22, in München einzugewöhnen. Oder auch um das im Sommer 2020 verpflichtete, aber lange verletzte Talent Tanguy Nianzou, 18, langsam an die Startelf heranzuführen. So aber geht Boateng genauso wie auch David Alaba, von dem Flick intern ebenfalls oft in höchsten Tönen schwärmte.
Mit Upamecano und Lucas Hernández, mit Niklas Süle und Nianzou sind die Bayern personell in der Defensivzentrale kommende Saison gut aufgestellt, auch Rechtsverteidiger Benjamin Pavard würde nach eigener Aussage vom Dienstag gern öfter in der Innenverteidigung spielen. Der Trainer des FC Bayern wird einige Alternativen haben für das Abwehrzentrum. Fraglich ist nur, ob der Trainer des FC Bayern dann noch Hansi Flick heißen wird.
Ein Kader ohne Flicks Handschrift
Der Abschied von Boateng wird nicht allein darüber entscheiden, ob auch Flick im Sommer die Bayern verlässt, dann in Richtung Nationalmannschaft. Aber es könnte bei der Entscheidungsfindung einer von vielen Mosaiksteinen sein. Wenn Flick immer mehr seiner Verbindungsmänner auf dem Feld abhandenkommen. Wenn er mehr Spieler verliert als Spiele, wenn er immer weniger selbst den Kader für die Zukunft mitgestalten kann, wird das nicht zwangsläufig zu einer stärkeren Bindung an den Klub führen.
Zwar hat Flick einen Vertrag bis 2023, nach den Reibereien der vergangenen Monate scheint auch der Burgfriede mit Sportvorstand Hasan Salihamidžić zu halten. Doch ein Bekenntnis, auch über den Sommer hinaus die Bayern zu trainieren, war von Flick bislang nicht zu hören. Auch der designierte Vorstandschef Oliver Kahn umkurvte am Samstag in Leipzig Fragen zu Flicks Zukunft, als er meinte, dass sich der Trainer nur »auf die aktuelle, auf die laufende Saison konzentrieren« wolle.
Und wo es Boateng nun hinzieht? Immer wieder betonte er, dass ihn nach seiner Zeit bei den Bayern die USA reizen würden, sein selbst erklärtes Lieblingsland, das er immer wieder besucht und bereist. Allerdings kickt Boateng für einen Karriereausklang in der sportlich wenig reizvollen MLS einfach noch zu gut. Möglich, dass er einen Verein in der Premier League findet. Und gut denkbar, dass sich Flick und Boateng ab Herbst dann öfters wiedersehen. Dann wieder bei der Nationalmannschaft.