Mourinho und Tottenham Hotspur im Aufschwung
»Ihr müsst ein Team von Arschlöchern sein«
Im englischen Titelkampf spielt Tottenham Hotspur plötzlich eine Hauptrolle. José Mourinho hat seiner Mannschaft Härte verordnet. Das funktioniert – und bringt dem Trainer den Spaß am Fußball zurück.
Wieder erfolgreich, wieder glücklich: José Mourinho bei Tottenham Hotspur
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Clive Rose/POOL/EPA-EFE/Shutterstock
Unter der Woche nahm José Mourinho den Mund mal wieder sehr voll, wenn auch etwas anders als sonst. Ein Foto auf seinem Instagram-Kanal zeigte ihn lachend neben Sergio Reguilon mit einem Stück spanischem Edelschinken zwischen den Zähnen. Er habe gegen den Linksverteidiger eine Wette verloren und ihm deswegen die 500 Pfund teure Schweinshaxe spendiert, hieß es dazu erklärend im Text.
Das nette Kabinenbrotzeit-Bildchen passt gut zum derzeitigen Stimmungshoch bei Tottenham Hotspur. Team, Trainer und Fans haben momentan viel Spaß miteinander, wie das eben so ist, wenn man nach vier Siegen in Folge unverhofft mitten im Meisterrennen mitläuft und mit einem Sieg bei Mourinhos Ex-Verein Chelsea am Sonntag Tabellenführer werden kann.
»Den Druck haben andere Trainer, lassen Sie uns doch einfach in Ruhe arbeiten«, sagte der Portugiese gut gelaunt, als er auf Tottenhams Chancen in der Liga angesprochen wurde. Der 57-Jährige arbeitet seit seinem Engagement bei União de Leiria in Portugal (2001-2002) zum ersten Mal wieder bei einem Verein, der nicht Meister werden muss, sondern schon mit einem Platz unter den ersten vier und dem einen oder anderen Pokal überglücklich wäre. Seine Lieblingsrolle als Herausforderer des Establishments kann er deswegen in Nordlondon glaubhafter spielen als zuvor bei Manchester United oder Real Madrid.
Mourinho dringt zu den Spielern durch
Ob die Spurs derzeit so erfolgreich sind, weil Mourinho nach der von Missmut und Dauerprovokation geprägten Zeit im Old Trafford wieder zur Freude an sich selbst und damit auch am Fußball gefunden hat oder der Fall eher umgekehrt liegt, lässt sich nicht zweifelsfrei ergründen. Beides gehört jedoch unbedingt zusammen. Er zeigt im Umgang mit seinen Spielern und der Presse in diesen Tagen jedenfalls jenen lausbubenhaften Charme, der in seinen besten Jahren bei Chelsea und Inter (2004-2010) einen nicht zu vernachlässigenden Teil des Faszinosums ausmachte.
So hat er es unter anderem geschafft, den von ihm anfangs heftig kritisierten Mittelfeldspieler Tanguy Ndombele in der Stammelf zu stabilisieren, und selbst der bisher kaum eingesetzte Nationalspieler Dele Alli nimmt seine Zurückstufung auffallend sportlich. Für den guten Draht zum Team sind laut Vereinsinsidern auch sein neu zusammengestelltes, stark verjüngtes Assistenztrainerteam rund um den 31-jährigen Taktikexperten João Sacramento verantwortlich.
Mourinho hat die unter Vorgänger Mauricio Pochettino als zu weich verschriene Truppe zudem bewusst zu mehr Härte und Verschlagenheit erzogen. In der Amazon-Dokumentation der vergangenen Saison sah man, wie er seine Elf in der Halbzeitpause des 2:0-Sieges gegen Manchester City im Februar dazu aufforderte, Rote Karten für die gegnerischen Außenverteidiger zu provozieren. »Ihr müsst wie City ein Team von Arschlöchern sein«, beschied er den Spielern. Tatsächlich flog in der Folge Oleksandr Zinchenko vom Platz.
Weggeschnappt: Tanguy Ndombélé, im Mittelfeld von Tottenham rehabilitiert, gewinnt den Ball gegen Manchester Citys Ruben Dias
Foto: KIRSTY WIGGLESWORTH / AFP
Interessant ist in diesem Zusammenhang die aktuelle Foul-Statistik. Mit 118 geahndeten Vergehen steht Tottenham auf Platz drei der Übeltätertabelle in der Premier League, wird aber zugleich mit zehn Gelben Karten und keinem einzigen Platzverweis als die drittfairste Mannschaft der Liga geführt. Mourinhos Spurs foulen also häufig, aber geschickt genug, um von den Schiedsrichtern nicht deutlicher bestraft zu werden. Genau so will es der Bandenchef vermutlich sehen.
Dies allein erklärt jedoch noch nicht den Aufschwung. Andere Faktoren spielen hierbei eine Rolle:
Ein 193-Millionen-Corona-Darlehen von der englischen Zentralbank zum Beispiel, das Mittel frei machte, um netto 95 Millionen in neues Personal wie den flinken Reguilon, Rückkehrer Gareth Bale (auf Leihbasis) und Pierre-Emile Højbjerg zu investieren.
Der ehemalige Bayern-Mittelfeldspieler verkörpert mit seiner Mischung aus Einsatz, Disziplin und einer gewissen Rotzlöffelhaftigkeit die veränderte Attitüde der Elf wie kein Zweiter.
Nationalstürmer Harry Kane präsentiert sich dazu als hängende Spitze hinter Son Heung-min in Hochform. Beide haben sich bereits neun Treffer gegenseitig aufgelegt und insgesamt sechzehnmal in der Liga getroffen.
Die Effektivität des Duos, insbesondere bei Kontern, zeigt nicht zuletzt, warum Mourinhos eher defensive, auf Fehlervermeidung ausgerichtete Strategie unter den speziellen Voraussetzungen der Saison 2020/21 außerordentlich gut funktioniert. Anders als die Spitzenklubs Liverpool und Man City, die ähnlich wie Hansi Flicks Münchner wegen der hohen Beanspruchung Schwierigkeiten haben, ihr risikobehaftetes Pressing aufzuziehen, spart Tottenhams Überfalltaktik Kräfte.
»In einer Welt des Abnutzungskampfes gewinnt derjenige, der die besten Schützengräben aushebt«, beschrieb der »Guardian« das Comeback dieses Retrostils. Die englische Liga kann man so eigentlich nicht mehr gewinnen, aber das dachten auch alle, bevor Leicester City 2016 mit einem vergleichbaren Ansatz alle Favoriten hinter sich ließ. Sollte Mourinhos abgezockte Gang den Lauf gegen Chelsea fortsetzen, wird man sich allmählich mit der Möglichkeit einer neuerlichen Sensation beschäftigen müssen.