Fußball-Statistik Warum Jürgen Klopp noch Trainer in Dortmund sein könnte

Jürgen Klopp
Foto: Rui Vieira/EPA-EFE/REX/ShutterstockDer Text ist ein Auszug aus dem Buch "Matchplan" von Christoph Biermann.
Als das Ende verkündet wurde, hatten alle Tränen in den Augen. Am 15. April 2015 saß Jürgen Klopp, damals noch Trainer von Borussia Dortmund, neben Geschäftsführer Hans-Joachim Watzke und Sportdirektor Michael Zorc im Presseraum des Dortmunder Stadions, um Klopps Abschied zum Saisonende zu verkünden. Mit brüchiger Stimme sprach Watzke seinem Trainer den "ewigen Dank aller Borussen" aus und beschwor ihre persönliche Freundschaft. Kurz standen sie auf, um sich zu umarmen. Dann sagte Klopp: "Für mich war immer klar: In dem Moment, wo ich nicht mehr der perfekte Trainer für diesen außergewöhnlichen Klub bin, würde ich es sagen. Ich war mir nicht sicher, dass ich es nicht mehr bin. Aber ich konnte es nicht eindeutig bejahen."
Vor der Saison hatte Klopp den Abgang des Bundesliga-Torschützenkönigs Robert Lewandowski zum FC Bayern zu beklagen gehabt, des besten und wichtigsten Spielers seiner Mannschaft. Zwar hatten die Dortmunder daraufhin gut 50 Millionen Euro in Transfers investiert, aber die Saison entwickelte sich desaströs. Der Bundesligazweite des Vorjahres spielte seine schlechteste Hinrunde seit fast drei Jahrzehnten und ging als Vorletzter in die Winterpause.
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Daraufhin veröffentlichte der Blogger Colin Trainor auf der englischen Website statsbomb.com eine Analyse der Situation in Dortmund, die man in der Rückschau als wegweisend bezeichnen muss. Trainor lebt in der nordirischen Grafschaft Armagh und war weder Insider noch Fan des BVB, er hatte in jener Saison kein Spiel der Borussen gesehen. Der Wirtschaftsprüfer bei einer Bank war einfach neugierig gewesen, warum eine der besten Mannschaften Europas der vorangegangenen Jahre plötzlich im Tabellenkeller gelandet war. Um die Situation zu analysieren, stützte er sich ausschließlich auf Spielstatistiken der Bundesligasaison.
"Der Gebrauch von Analytik kann uns beurteilen helfen, ob bestimmte Ergebnisse aus großen Fähigkeiten resultieren oder einfach zufälligen Umständen geschuldet sind", schrieb Trainor. Auf der Suche nach einer Antwort im Dortmunder Fall kam er zu der Einschätzung, dass Klopps Mannschaft in der Hinrunde der Saison 2014/15 eigentlich 25 Tore hätte schießen müssen, während sie in Wirklichkeit nur 17 Treffer erzielt hatte. Eigentlich hätte sie auch nur 17 Gegentreffer hinnehmen dürfen statt der 26, die sie kassiert hatte. Daraus folgte: Viele Spiele hätten anders ausgehen müssen, als es der Fall gewesen war. Aufgrund der aus diesen Ergebnissen abgeleiteten Expected Points (xPts) kam Trainor zu einem spektakulären Ergebnis: Klopps Mannschaft hätte nicht auf dem vorletzten, sondern auf dem vierten Platz stehen müssen.
Aber wie kam dieser Typ aus Nordirland, der kein Spiel des BVB gesehen hatte, zu dieser verwegenen Behauptung? Dazu müssen wir uns bewusst machen, dass Fußball ein Spiel der Wahrscheinlichkeiten ist.
Jeder Fußballfan hat irgendwann schon mal den Satz gesagt: "Den muss er machen!" Gemeint ist damit, dass ein Spieler eine große Torchance hat. Man würde diesen Satz etwa sagen, wenn ein Stürmer aus fünf Metern unbedrängt aufs Tor köpft oder einen Ball aus zehn Metern nur noch ins leere Tor schieben muss. Über einen Schlenzer von der Strafraumkante ins lange Eck würden wir das nicht sagen. Wir gewichten also instinktiv Abschlüsse danach, wie groß die Chance ist, dass sie ins Tor gehen.
Wir gehen das nicht systematisch an und versuchen die Größe einer Torchance genau zu quantifizieren, aber das ist möglich. Nehmen wir den einfachsten Fall: den Elfmeter. Die Chance, dass ein Elfmeter ins Tor geht, beträgt in der Bundesliga 74,69 Prozent. Von 4651 Elfmetern, die vom Start der Bundesliga 1963 bis zum 1. Januar 2018 verhängt wurden, landeten 3474 im Tor. Der Rest, immer noch rund ein Viertel, wird abgewehrt oder fliegt am Tor vorbei.

Verzweifelt: Mats Hummels und Sokratis im Oktober 2014
Foto: imago/T-F-FotoMan kann dieses Verfahren für andere Situationen wiederholen, wenn man weiß, von wo aus Torschüsse aus dem Spiel heraus oder nach Freistößen abgegeben worden sind. Aufgrund der allgegenwärtigen Datenerhebung beim Fußball ist das heute bei den meisten Spielen internationaler Profiligen möglich. Wenn man von Zehntausenden Torschüssen aus Tausenden von Spielen erfasst hat, von welcher Stelle sie abgegeben wurden und ob sie zu Toren führten, ergibt sich eine besondere Karte des Spielfelds. Man kann dann nämlich ziemlich genau sagen, wie hoch die Wahrscheinlichkeit ist, von einem bestimmten Punkt aus ein Tor zu schießen.
Diese Karte ist noch roh, denn auch ein paar rare Zufallstreffer finden sich hier, etwa von der Seitenauslinie auf Höhe des Strafraums. Sie tauchen dort mit hohen Werten auf, weil von diesen Positionen fast nie Torschüsse abgegeben werden, aber mal ein Glückstreffer reingegangen ist. Realistisch wird das Bild im Strafraum und in seiner Nähe. Auch ohne größere Rechenoperationen angestellt zu haben, sagt einem die Erfahrung, dass es für Torschüsse bessere und schlechtere Punkte auf dem Platz gibt.
Jedem Fan ist klar, dass es ein Jahrhundertereignis war, als Lothar Emmerich bei der Weltmeisterschaft 1966 rief: "Sigi, gib mich die Kirsche!" Denn Emmerich gab seinen Schuss gegen Spanien bekanntlich aus "unmöglichem Winkel" ab, wie man damals sagte. Ganz unmöglich war er nicht, aber die Wahrscheinlichkeit, dass sein Schuss von der Position an der Torauslinie kurz außerhalb des Fünfmeterraums ins Tor gehen würde, war äußerst gering. Wie hoch bzw. niedrig sie ist, kann man heute genau sagen: zwei Prozent. Wenn Emmerich 50-mal von dort aus geschossen hätte, hätte er statistisch gesehen einmal getroffen. Klarer Fall: Den musste er nicht machen!

Tor aus unmöglichem Winkel: Lothar Emmerich (r.) trifft gegen Spanien
Foto: imagoWenn man alle Schüsse nimmt, die eine Mannschaft im Laufe eines Spiels abgibt, und schaut, mit welcher Wahrscheinlichkeit sie ins Tor gegangen wären, erhält man einen Gesamtwert. Er wird Expected Goals genannt und xG abgekürzt. Der Schuss von Emmerich gegen Spanien mit seiner Zwei-Prozent-Wahrscheinlichkeit würde mit 0,02 in die Rechnung eingehen, ein Elfmeter mit 0,75. Wir erinnern uns: Zu knapp 75 Prozent ist ein Elfmeter ein Tor. Um den Wert noch genauer zu machen, wird die jeweilige Spiel- und Abschlusssituation in Rechnung gestellt. Schließlich ist ein Schuss aus zehn Metern gefährlicher als ein Kopfball, oder ein Schuss nach Konter bedeutet eine höhere Chance auf ein Tor, weil der Gegner dabei meist weniger geordnet ist, als wenn man auf eine stehende Abwehr zuspielt. Abschlüsse nach Standardsituationen werden ebenfalls eigen gewichtet. Das bedeutet, dass die Werte auf der obigen Karte noch verfeinert werden.
Nun könnte man denken: Das ist alles schön und gut, es gibt aber bessere und schlechtere Spieler. Der Einwand ist richtig, es gibt Unterschiede, aber sie sind erstaunlich gering. Der englische Fußballanalytiker Omar Chaudhuri hat das am Beispiel von Cristiano Ronaldo nachgewiesen. Er hat 1490 Torschüsse untersucht, ausgenommen Elfmeter, die Ronaldo zwischen 2010 und 2017 im Trikot von Real Madrid bei Ligaspielen abgab. 13,3 Prozent seiner Schüsse trafen ins Tor, was etwas über dem Durchschnitt der spanischen Liga von 11,1 Prozent lag. Chaudhuri schloss daraus, dass einer der besten Stürmer der Gegenwart aufgrund seiner Klasse im Abschluss ein oder zwei Tore mehr pro Saison erzielt.

Cristiano Ronaldo
Foto: GABRIEL BOUYS/ AFPWas ihn so außergewöhnlich macht, ist etwas anderes: Cristiano Ronaldo schießt viel häufiger aufs gegnerische Tor als alle anderen Stürmer (er kommt auf durchschnittlich fast sieben Abschlüsse pro Spiel). Fast noch wichtiger ist aber: Er tut das zumeist aus guten Positionen, also von Positionen mit einem hohen Wert bei den Expected Goals. Dass Ronaldo das tut, hat mit seinen großartigen Mitspielern zu tun, seiner exzellenten Technik und einem Sinn für gefährliche Räume. Chaudhuri kam zu dem Schluss, dass Ronaldo deshalb acht bis zehn Tore pro Saison mehr erzielt als ein durchschnittlicher Stürmer, weil er bessere Positionen zum Schießen findet.
Der BVB hatte schlichtweg Pech, und das über eine lange Zeit
Als Borussia Dortmund im Winter 2014 auf einem Abstiegsplatz stand, stellte Colin Trainor im fernen Nordirland kopfschüttelnd fest, dass er so eine krasse Abweichung zwischen Expected Goals und wirklichen Toren noch nicht gesehen hatte. Entsprechend resümierte er über die Dortmunder Aussichten: "Selbst wenn die Leistung nicht besser wird, bin ich ziemlich zuversichtlich, dass Dortmund in der Tabelle weiter nach oben klettern wird." Er wollte damit sagen, dass die Leistung besser als die Ergebnisse war. Der BVB hatte schlichtweg Pech, und das über eine lange Zeit. Weil Fußball aber kein Glücksspiel ist, würde die Pechsträhne vorbeigehen.
Statistischen Ausreißern folgt irgendwann die Regression zur Mitte, beim BVB passierte das schon in der Rückrunde 2014/15. Obwohl personell kaum verändert, holte die Mannschaft nun 31 Punkte und schaffte es sogar noch in die Qualifikation zur Europa League. Und so stellt sich die Frage, ob Jürgen Klopp in seiner letzten Saison beim BVB vielleicht weniger gezweifelt hätte, der ideale Trainer für diesen Klub zu sein, wenn ihm jemand vorgerechnet hätte, wie groß der Anteil von Pech an den schlechten Ergebnissen war. Die Expected Goals liefern zwar nicht das "wahre" Ergebnis, aber sie schärfen den Blick auf den Umstand, dass Leistung und Ergebnis im Fußball nicht immer deckungsgleich sind. Und vor dem nächsten Trainerrauswurf oder der nächsten Vertragsverlängerung könnten sich die Klubs mit Hilfe dieses Wertes fragen, ob sie nicht einfach nur Pech bestrafen oder Glück belohnen.