Gehirnerschütterung bei Liverpool-Keeper Karius Knock-out in der 49. Minute

Loris Karius
Foto: David Ramos/ Getty ImagesWer bis zum Montag die entscheidende "Szene des Spiels" des Champions-League-Finals zwischen dem FC Liverpool und Real Madrid definieren wollte, dürfte wohl das Traum-Fallrückziehertor von Gareth Bale genannt haben. Oder einen der beiden Patzer von Loris Karius, vielleicht die Verletzung von Liverpools Top-Star Mohamed Salah. Doch nach Montag muss man wohl sagen: Die Szene des Spiels fand in der 49. Minute statt.
Bis zu diesem Zeitpunkt war noch kein Tor gefallen, doch ein Vorfall sollte dem Spiel die entscheidende Wendung bringen: Real Madrid griff an, passte den Ball links in den Strafraum. Das wirklich Interessante spielte sich aber einige Meter entfernt am linken Pfosten von Liverpools Tor ab. Sergio Ramos, Madrids Kapitän, wurde von Virgil van Dijk bedrängt, vielleicht sogar geschubst - und erwischte Keeper Karius im Vorwärtsfallen mit dem rechten Ellenbogen am Kopf. Absicht? Schwer zu sagen.
In der 49. Minute bekommt @LorisKarius den Ellenbogen von @SergioRamos ab. Zwei Minuten später folgt sein erster Patzer. #RMALFC #UCLFinal pic.twitter.com/dv0far0rva
— ZDF sportstudio (@sportstudio) May 26, 2018
Wie auch immer man die Aktion von Ramos beurteilt - das Ausmaß seines Wirkungstreffers wurde am Montag bekannt, neun Tage nach dem Finale. Eine Untersuchung im Massachusetts General Hospital ergab, dass Karius aufgrund des Schlags eine Gehirnerschütterung erlitt. Der behandelnde Arzt diagnostizierte dem deutschen Torhüter eine "visuelle räumliche Dysfunktion", die Auswirkungen auf sein Spiel gehabt haben könne.
"Kein Mensch kann sich 45 Minuten lang konzentrieren"
"Für mich klingt die Argumentation des Arztes plausibel", sagt der Kinderneurologe Florian Heinen von der Ludwig-Maximilians-Universität München dem SPIEGEL. Karius Verhalten passe zu den Symptomen einer Gehirnerschütterung, auch wenn er nach dem Zusammenstoß noch eine Top-Parade zeigte.

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Im Gedächtnis blieben aber andere Szenen: Der verunglückte Abwurf, den Benzema nutzte. Oder der durchgerutschte Schuss von Bale. "Kein Mensch kann sich auf maximalem Niveau 45 Minuten konzentrieren", sagt Kinderneurologe Heinen. Torwarte können exakt im richtigen Moment herausragende koordinative und kognitive Leistungen bringen. "Durch eine Gehirnerschütterung ist diese Funktion gestört", sagt Heinen. Das würde auch erklären, warum Karius gerade in den Momenten patzte, die ihn eigentlich nicht herausfordern - wie eben solch ein Abwurf.
"Schiri, ist das das Finale"
Gehirnerschütterungen sind im Sport keine Seltenheit. In der NFL sind die Spätfolgen der Verletzungen ein großes Problem, doch auch im Fußball kommen sie immer wieder vor. Prominentes Beispiel war der Auftritt von Christoph Kramer im WM-Finale 2014. Der deutsche Mittelfeldspieler war mit Argentiniens Ezequiel Garay zusammengeprallt und hatte den Schiedsrichter danach gefragt: "Schiri, ist das das Finale?". Kramer wurde ausgewechselt und gab später an, sich an seinen Einsatz kaum noch erinnern zu können.

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Karius war in Kiew nicht ausgewechselt worden. Der Torhüter hatte sich beim Schiedsrichter über Ramos' Aktion beschwert, wurde aber weder von Teamärzten untersucht noch entdeckte der Schiedsrichter Auffälligkeiten in seinem Verhalten. Dass Karius keine der landläufig bekannten Symptome einer Gehirnerschütterung wie Bewusstlosigkeit oder Erbrechen zeigte, ist kein Ausschlusskriterium für die Diagnose: Nur in weniger als zehn Prozent aller Fälle treten diese Begleiterscheinungen auf.
Eigentlich hat die Uefa für ihre Wettbewerbe, zu denen auch die Champions League gehört, eine vorgeschriebene Pause von bis zu drei Minuten eingeführt, falls es bei einem Spieler den Verdacht einer Gehirnerschütterung gibt. In dieser Zeit soll der betroffene Sportler vom Mannschaftsarzt untersucht werden können, er darf dann eigentlich nur weiterspielen, wenn der Arzt dem Schiedsrichter das Ok gibt.
Eine mögliche Erklärung, aber kein Trost
Mediziner Heinen ärgert sich, dass im Fußball nicht häufiger auf Gehirnerschütterung getestet wird, obwohl neben der Uefa auch die Fifa dafür eindeutige Untersuchungen vorgibt. "Die dauern allerdings mehrere Minuten", sagt der Mediziner. Das sei vermutlich ein Grund, warum sie so selten eingesetzt werden. Die Ärzte müssen dem Betroffenen Fragen zu dem Spiel stellen und seine Koordinationsfähigkeit testen. "Eine Gehirnerschütterung lässt sich eben nicht so leicht diagnostizieren wie eine Verletzung des Sprunggelenks", sagt Heinen.
Doch die kann gravierende Spätfolgen haben. Experten raten bei Gehirnerschütterungen dazu, eine Pause einzulegen: Die wichtigsten Therapiebausteine sind Zeit, Ruhe und ein behutsamer Wiedereinstieg in Aktivitäten des Alltags, auf das Hören von Musik, den Gebrauch von Fernsehern oder Computern und - natürlich - sportliche Aktivitäten soll verzichtet werden, bis keine Symptome mehr vorliegen.
Für Karius und auch den FC Liverpool liefert die Diagnose nun eine mögliche Erklärung für seine Fehler. Ob sie die Enttäuschung über das verlorene Finale lindern wird, bleibt ungewiss.