Atlético-Star Suárez
Kein Spieler zieht mehr Kraft aus dem Gefühl, ungerecht behandelt worden zu sein
Luis Suárez wurde in Barcelona als Bauernopfer aussortiert. Bei
Atlético Madrid zeigt der 34-Jährige, dass er noch ein Weltklassestürmer ist. Gegen Chelsea in der Champions League treibt ihn verletzter Stolz an.
Er findet das Netz: Luis Suárez hat in dieser Saison bereits 16 Mal für Atlético getroffen
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PABLO MORANO / REUTERS
Das ist das Stürmerleben: Mal gehen alle rein, dann plötzlich keiner mehr. Luis Suárez kennt das aus mittlerweile 16 Berufsjahren, und so kann ihn persönlich der jüngste Umschwung wahrscheinlich am wenigsten schockieren. Nach zuvor sieben Toren in vier Spielen ging er bei den vergangenen drei Partien seines Klubs Atlético Madrid leer aus. Das Problem nur ist: Trifft er nicht, dann tut es halt zu oft auch kein anderer bei Atlético.
Vor dem heutigen Champions-League-Heimspiel gegen Thomas Tuchels FC Chelsea (Anpfiff 21 Uhr, live bei DAZN) in, na klar, Bukarest steckt Atlético damit in der ersten Ergebniskrise der Saison. Acht Punkte hat der spanische Tabellenführer in zwei Wochen liegen gelassen – so viele wie in vier Monaten zuvor. Erstmals in der neunjährigen Amtszeit von Trainer Diego Simeone kassierten die Defensivkünstler dabei sieben Ligaspiele nacheinander mindestens ein Gegentor; derweil vorn am Samstag beim 0:2 gegen das Mittelklasseteam Levante gleich 28 Torschüsse erfolglos blieben. Unter dem Strich stehen statt elf Punkten Vorsprung an der Tabellenspitze unvermittelt nur noch drei.
Atléticos internationaler Ruf scheint allerdings auch so noch Respekt einflößend genug. »Kampf, Erfahrung und starke Mentalität« erwartet Tuchel von einem Gegner, der in der bis dato letzten Europapokalrunde nach klassischem Muster – Zuschauer in Hin- und Rückspiel – in der vorigen Saison das hoch favorisierte Liverpool eliminierte. Und sich seither eben noch mit Suárez verstärkt hat, 442 Treffer in 671 Klubspielen, Torschützenkönig mit Ajax in Holland, Liverpool in England, Barcelona in Spanien. »Was für ein Spieler«, so Tuchel, »was für eine Mentalität.« Suárez – das ist Atlético im Quadrat.
In jedem Ball eine Verheißung
Auf gewisse Weise hat also zusammengefunden, was zusammengehört: der ultrakompetitive Simeone von der argentinischen Seite des Río de la Plata und der gleichfalls nimmermüde Suárez vom östlichen Flussufer des Uruguay. Mit 34 sieht Suárez noch in jedem Ball eine Verheißung und in jedem Zweikampf eine Provokation. Er ist ein perfekter Agitator, der trotz bisweilen grober Motorik gleichzeitig auch ein selten kompletter Angreifer ist.
Seine Liaison mit Atlético war allerdings nicht vorbestimmt, denn er spielte ja beim Ligarivalen Barcelona und wollte da eigentlich auch nie mehr weg. Es handelte sich immerhin um die Stadt, die er angehimmelt hatte, seit seine Jugendfreundin – und heutige Frau – Sofía mit ihren Eltern dorthin gezogen war; den Klub, der nach seinem WM-Biss 2014 trotzdem mit 80 Millionen Ablöse auf ihn gesetzt hatte; den Verein, in dem er seinen Freund Lionel Messi fand und zum weltfußballerbesten Sturmpartner avancierte.
»Mit all meinem Stolz sagte ich mir, dass ich zeigen würde, was ich wert bin.«
Luis Suárez über seinen Abgang vom FC Barcelona
Doch dieser Klub wollte, dass er geht: als allseits sichtbare Opfergabe nach dem desaströsen 2:8 gegen den FC Bayern. Ehe er es so richtig glauben konnte, war Suárez auf dem Markt. Fast wäre er bei Juventus gelandet, mittels Einbürgerung durch einen gefakten Sprachtest an der Universität Perugia, den die Behörden weiter untersuchen. Auch Tuchels damaliger Klub Paris Saint-Germain bot sich an, wie der Trainer am Montag erzählte: »Wer würde sich nicht für einen der weltbesten Stürmer in Geschichte und Gegenwart interessieren? Wir versuchten unser Glück, aber er entschied sich, in Spanien zu bleiben.«
Platz eins in der Torjägerliste – mit Messi
Atlético also. Über die Wechselkonditionen gibt es verschiedene Darstellungen, es geht aber um vergleichsweise symbolische Summen, und so lässt sich mit Fug und Recht behaupten, dass Tore selten so billig waren. 16 hat er in dieser Saison bereits geschossen, Platz eins in der spanischen Torschützenliste gleichauf mit Kumpel Messi – bei ungleich größerer Effizienz. Fast jeder dritte Suárez-Schuss landet im Tor.
»Mit all meinem Stolz sagte ich mir, dass ich zeigen würde, was ich wert bin«, erzählte Suárez dieser Tage »France Football«. Kein Spieler zieht so viel Kraft aus dem Gefühl, ungerecht behandelt worden zu sein: Das war schon in der Post-Biss-Saison so, die er als monatelang gesperrter Paria begann und als triumphaler Triplesieger beendete.
Neuerdings – das Leben jenseits von Messi hat auch seine Vorteile – brilliert er sogar als Freistoßschütze. Am Samstag gegen Levante etwa zeigte er einen herrlichen Versuch aus fast 30 Metern, doch der Torwart lenkte den Ball mit den Fingerspitzen an den Pfosten. Atlético rannte glücklos an, aber immerhin, es rannte an: Im Vergleich zu früher kann es offensiv mehr Druck erzeugen, weil die Mannschaft insgesamt höher steht. Auch das ist eine Folge von Suárez, wie Simeone schon früh in der Saison darlegte. Dieser sei, zumal in seinem Alter, kein Konterstürmer im Raum: »Er braucht Mitspieler nah bei sich«, sagte Simeone.
Atlético hat sich auf Suárez eingelassen wie auf keinen Spieler zuvor. Wegen seines sensiblen Knies wurde er in der Vorbereitung von den berüchtigten Drills des Konditionstrainers Óscar »El Profe« Ortega befreit. Er muss auch nicht so bedingungslos nach hinten ackern wie einst Antoine Griezmann oder Diego Costa.
Zurück zahlt er mit der – gerade bei Atlético – kostbarsten Währung des Fußballs. Nur in der Champions League hat er noch nicht für seinen neuen Klub getroffen. Suárez schreibt insofern seine Geschichte aus Barcelona fort: Dort kam er in seinen letzten 35 Champions-League-Spielen nur auf acht Tore, eine Quote weit unter gewohntem Niveau, die interne wie externe Kritiker erst zu den Abgesängen ermunterte.
»Am meisten gestört hat mich, dass es hieß, ich sei zu alt für das Toplevel«, sagt Suárez. In der Meisterschaft steht Atlético weiter klar vor Barcelona. Aber europäische Heldentaten würden die Revanche erst richtig versüßen. Und dann?
In seinen Vertrag ließ er eine Klausel einarbeiten, wonach er im Sommer kündigen kann. Er, sonst niemand. Luis Suárez will nie wieder andere darüber entscheiden lassen, wann es für ihn vorbei ist.