Mario Götze bei der PSV Eindhoven Der Welt den Rücken

Mario Götze: In den engen Räumen immer noch einer der besten deutschen Spieler
Foto:Moritz Mo& à ¸ller / imago images/Moritz Müller
Die Zeit drängte. Obwohl Mario Götze als vertragsloser Spieler auch noch nach Ende des Transferfensters hätte wechseln können, wurde der Kontrakt bei der PSV Eindhoven am späten Dienstagabend finalisiert. Bis Mitternacht musste der Klub seinen Kader für die Gruppenphase in der Europa League gemeldet haben. Und Europa ist immer noch der Ort, aus dem sich das Selbstverständnis der Eindhovense Voetbalvereniging Philips’ Sport Vereniging speist. 1978 gewann man den Uefa-Cup, 1988 gar den Europapokal der Landesmeister. Zwei Europapokalsiege, damit steht man unter anderem auf einer Stufe mit Benfica Lissabon oder auch Borussia Dortmund.
Dass die niederländischen Widersacher Feyenoord auf drei und Ajax auf sechs Europapokalsiege kommen, ist dann wiederum Teil des Problems der PSV: In der heimischen Meisterschaft stehen zwar 24 Titel zu Buche, die Beliebtheit und das Flair des großen Ajax hat man jedoch nie erreichen können.
Der Identitätsfindung des Klubs und seiner Anhänger hat das nicht geschadet: dort die schnöseligen Hauptstädter bei Ajax, hier die PSV und die "boeren", die Bauern aus Noord-Brabant. Die Flagge der südniederländischen Provinz ist rund ums Philips Stadion allgegenwärtig, das Vereinsmotto lautet "Eendracht Maakt Macht", "Einigkeit macht stark".
Schlüssel für das Weitertragen des PSV-Selbstbewusstseins ist der stete Einbau ehemaliger Größen in den Vereinsapparat. Ruud van Nistelrooy, 1998 bis 2001 bei der PSV, ist aktuell Jugendtrainer, der 54-fache Nationalspieler Boudewijn Zenden, ebenfalls fünf Jahre Spieler des Klubs, einer der Co-Trainer von Roger Schmidt.
Der deutsche Trainer Schmidt hat den Klub im Sommer nach einer verpatzten Saison übernommen und sofort mit den Umbaumaßnahmen in Sachen Kader und Taktik begonnen. Von älteren Spielern wie Ibrahim Afellay, Bruma oder Ricardo Rodríguez trennte man sich und verjüngte so den Kader. Aus Augsburg kam der Linksverteidiger Philipp Max und war zeitweise mit seinen 26 Jahren der ältester Spieler in der Startelf. Mit der Wucht und Geschwindigkeit der Offensivkräfte Cody Gakpo, 21, Donyell Malen, 21, und Noni Madueke, 18, hat Schmidt bereits nach wenigen Spielen einen wiedererkennbaren Stil kreiert.
Die Sehnsucht nach einem starken Trainer und die Bereitschaft, mit ihm gemeinsam Neuland zu betreten, ist in Eindhoven womöglich ausgeprägter als andernorts. Guus Hiddink, Kees Rijvers oder Eric Gerets standen beim Klub für das, was so oft mit dem verwaschenen Wort "Mentalität" etikettiert wird und doch eigentlich nur Hingabe und Überzeugung an die eigene Stärke meint. Niederländischen Teams hängt seit Jahrzehnten der Ruf der spielerischen Klasse, aber auch der mangelnden Wettkampfhärte an. Auf die PSV trifft das allerdings nicht zu. Das Team spielt traditionell so, wie PSV-Fan Max Verstappen in der Formel 1 fährt: giftig, angriffslustig, schwer abzuhängen.
Der Faktor Roger Schmidt
Dass jetzt Götze, der 28 Jahre alte Siegtorschütze eines WM-Finals und 63-facher deutscher Nationalspieler, im Spätsommer und nicht Spätherbst seiner Karriere nach Eindhoven wechselt, mag in Deutschland überraschen und womöglich der Überzeugungsarbeit Schmidts geschuldet sein. Für die Beteiligten ergibt der Wechsel allerdings Sinn: Götze bekommt Ruhe und bestenfalls wieder Spaß am Fußball, die PSV erhält mit ihm neben Erna Zahavi, 33, den PSV-Trainer Schmidt noch bestens aus seiner Zeit als Trainer von Bejing Guoan kennt, einen erfahrenen, spielstarken Mann, der die Hochtalentierten in der Offensive anleiten kann.
Der Gang in die Eredivisie mag für Götze auf den ersten Blick sportlich wie ein Abstieg wirken. Doch auf den zweiten könnte er sich als besonders passend erweisen. Und zwar aus zwei Gründen:
Der Stil, der in der Eredivisie gespielt wird, könnte Götzes Qualitäten entgegenkommen.
Das System, das Roger Schmidt bei der PSV spielen lässt, sieht die perfekte Position für ihn vor.
Zu Punkt eins: Die niederländische Liga unterscheidet sich von der Bundesliga. Frank Wormuth, ehemaliger DFB-Trainer-Ausbilder und seit 2018 beim niederländischen Erstligisten Heracles Almelo, beschrieb den Stil gegenüber dem SPIEGEL einmal so: "Lieber 5:4 als 1:0 gewinnen. Alles denkt offensiv. Der Ballführer kann den Ball vor allem im Mittelfeld relativ unbedrängt und mit wenig Gegenhärte führen." Dort könne man Fußball spielen, während es in Deutschland eher heiße, "Fußball zu kämpfen".
Götze setzte sich Jahre lang in Dortmund und auf internationaler Ebene auch kämpferisch durch. Er prägte den "Vollgas-Fußball" der Klopp-Ära beim BVB mit vielen intensiven Läufen mit. Doch zuletzt ist ihm auch aufgrund einer Erkrankung die Dynamik verloren gegangen. Die Intensität früherer Jahre fehlt.
Aber wenn es darum geht, in engen Räumen kurze, schnelle Pässe zu spielen, zu kombinieren, dann zählt Götze noch immer zu den besten Spielern im deutschen Fußball. Und genau diese technische Finesse und sein Raumgefühl könnten ihn im auf Offensive getrimmten Stil der niederländischen Liga besonders wertvoll für seinen neuen Klub machen.
Zu Punkt zwei: Schmidt stand Jahre lang für einen dogmatischen Pressingfußball. So hatte er es einst bei Red Bull Salzburg gelernt und später dann auch bei Bayer Leverkusen spielen lassen. Doch in seiner Zeit in China scheint Schmidt sein taktisches Repertoire erweitert zu haben. Er setzt jetzt stärker auf Ballbesitz. In den ersten vier Liga-Spielen mit Eindhoven hatte sein Team jeweils öfter den Ball als der Gegner. Schmidt stellte stets in einem 4-2-2-2-System auf - mit zwei verkappten Zehnern, die außen begannen, aber meist in die Mitte einrückten. Diese Position ist für Götze perfekt. Hier kann er seine Fähigkeiten ausspielen. Mit zwei Stürmern und einem Achter auf dem Feld gäbe es noch weitere Einsatzorte für Götze.
Spielzeit wird er also sehr wahrscheinlich bekommen. Diese hatte er in Dortmund zuletzt nicht mehr.

PSV-Spieler um Sören Lerby (2.v.l.) nach dem Gewinn des Europapokals 1988
Foto: Bob Thomas / Bob Thomas Sports Photography via Getty ImagesMit großen Namen kennt man sich bei der PSV zudem aus: Arjen Robben, Ruud Gullit, Patrick Kluivert, Georginio Wijnaldum, die Brasilianer Ronaldo und Romário - sie alle spielten für die PSV, begeisterten und wurden woanders internationale Superstars. Darauf ist man stolz, seht her, in Eindhoven wird man für Größeres geschnitzt. Götze könnte nun den umgekehrten Weg gehen, von der Weltbühne in überschaubare Gefilde. Aber es könnte durchaus sein, dass er dort wieder glücklich wird.