Atlético Madrids Meisterschaft Das Ende des spanischen Zweiparteiensystems

Atlético-Coach Simeone: "Da müssen wir wieder hin"
Foto: AP/dpaEs war der 23. Dezember 2011, als Diego Pablo Simeone das Team von Atlético Madrid übernahm. Schon an diesem Tag gab der Argentinier seinen Spielern die Marschrichtung vor: "Ich habe hier 1996 als Spieler das Double geholt und Real wie Barcelona die Stirn geboten. Da müssen wir wieder hin!"
Anfangs wurde der 44-Jährige von vielen Experten in Spaniens Fußballsendungen belächelt, doch sein so häufig genutztes 4-2-3-1 System mit defensiver Kerntaktik und schnellem, überfallartigem Konterfußball erlebte an diesem Samstagabend seinen Höhepunkt. Die "Rotweißen" aus dem Süden der Hauptstadt krönten mit dem 1:1 (0:1) beim FC Barcelona eine atemberaubende Saisonleistung mit dem zehnten Meistertitel.

Spanischer Fußball: Duell um den Titel
Vor dem entscheidenden Spiel hatte Simeone im Madrider Nobelhotel "Rey Juan Carlos I" eine 20-minütige Brandrede gehalten, ganz ähnlich seinen Antrittsworten im Winter 2011: "Ihr werdet heute als Meister vom Platz gehen, Barcelona ist nicht besser als wir. Wir sind der Tabellenführer und dabei bleibt es. Ohne wenn und aber!" Im Anschluss besaß bei Atlético niemand mehr Zweifel daran, was an diesem Abend passieren würde.
Schwarmintelligenz gegen Superstar
Dabei mussten in der ersten Halbzeit mit Diego Costa und Arda Turan zwei wichtige Offensivakteure verletzungsbedingt ausgewechselt werden. Trotzdem ließ die Mannschaft das Tiki-Taka-Spiel der Katalanen nicht zur Entfaltung kommen und wartete zudem geduldig auf seine Konterchancen, bei denen wie gewohnt mehrere Akteure blitzschnell in der gegnerischen Hälfte auftauchten. Mit ihrer Schwarmintelligenz ließen sie Barcelonas Superstar Lionel Messi blass aussehen.
Dieser Erfolg ist keine Überraschung, Simeone hatte den beiden bis dahin übermächtigen Weltklubs aus Madrid und Barcelona seit seinem Amtsantritt mehrere Warnsignale gesendet: 2012 holte Atlético die Europa League, vergangene Saison wurde der Klub sensationell Pokalsieger im Estadio Santiago Bernabéu gegen Real.
Simeone ließ sich von seiner Kampfansage auch durch große finanzielle Engpässe und einen Jahresetat von nur 140 Millionen Euro nicht abbringen. Vor einem Jahr noch glaubten selbst eingefleischte Fans, dass der Verkauf des kolumbianischen Stürmerstars Radamel Falcao zum AS Monaco den Traditionsverein zurück ins Mittelmaß befördern würde. Viele stichelten gegen Präsident Enrique Cerezo und Vereinsbesitzer Miguel Angel Gil, den Sohn des 2004 verstorbenen exzentrischen Präsidenten Jesús Gil y Gil.
Doch plötzlich zauberte Simeone mit dem Brasilianer Diego Costa einen neuen Top-Stürmer hervor. Einen, der bis zum vergangenen Jahr im Schatten von Falcao gar nicht aufgefallen war. Der Trainer schnitt das Konterspiel auf Diego Costa zu und gab dem in Brasilien geborenen Spanier mehr Freiheiten auf den letzten zehn bis 15 Metern. Simeone setzte zudem auf kürzere, aber intensivere Trainingseinheiten; das Spiel wurde körperlicher und laufintensiver. Jeder Profi muss bei Ballbesitz des Gegners defensiv agieren und weiß genau, was er bei Standardsituationen zu tun hat.
Ähnlichkeiten mit dem BVB
Simeone gilt als redegewandeter Motivator, über viele Gespräche versucht er, aus jedem seiner Spieler noch mehr herauszuholen. Viele Beobachter sagen, der neue spanische Meistertrainer erinnere an Borussia Dortmunds Jürgen Klopp: ein charakterstarker Trainer, der offen seine Emotionen zeigt. Und auch die Teams ähneln sich: Die ganz großen Weltstars fehlen, dafür herrscht ein enormer Mannschaftsgeist. Selbst beim Spielsystem findet man Gemeinsamkeiten mit dem des BVB.
Atlético möchte beim Champions-League-Finale am 24. Mai in Lissabon (20.45 Uhr, Liveticker SPIEGEL ONLINE) noch einen drauflegen und gegen den Erzrivalen Real Madrid zum ersten Mal in der "Königsklasse" triumphieren. Der Titelgewinn im Camp Nou hat dem neuen spanischen Meister einen gehörigen Adenalinschub gegeben. Es ist gut möglich, dass der vermeintliche Außenseiter so einen psychologischen Vorteil gegenüber den favorisierten großen Namen wie Gareth Bale, Cristiano Ronaldo und Co. besitzt.
Ein Champions-League-Sieg Atléticos würde die spanische Fußballordnung noch stärker erschüttern. Dabei versucht man vor allem beim FC Barcelona, sich neu zu sortieren. Nach dem Meisterschaftsspiel trat dort Trainer Gerardo Martino zurück. Der frühere Barça-Spieler Luis Enrique, bis zuletzt Trainer von Celta de Vigo, steht bereits in den Startlöchern.
In Spanien heißt es bei Barcelona würden im Sommer sieben bis acht neue Spieler verpflichtet, einer davon soll der Gladbacher Torwart Marc-André ter Stegen sein. Damit einher geht die Trennung von einigen Leistungsträgern. Es kursieren Namen wie Xavi, Alex Song, Javier Mascherano, Dani Alves. Zudem gehen Victor Valdés und Abwehrikone Carles Puyol, der seine Karriere beendet. Auf Sportdirektor Andoni Zubizarreta kommen harte Monate zu.
Die hat Atlético Madrid nun endgültig hinter sich gelassen. Der Club hat bewiesen, dass nicht nur die mit viel Geld finanzierten Projekte von Paris St. Germain, Manchester City oder dem FC Chelsea zum Erfolg führen - und sich damit in die Herzen aller Fußballromatiker gespielt.
