Zum Tod von Michael Tönnies Tornado

Michael Tönnies (Archivbild von 1991)
Foto: Hartmut Reeh/ dpaWäre das Leben von Michael Tönnies ein Film, dann gäbe es da diese zwei entscheidenden Szenen. Die, die einem nicht aus dem Kopf gehen, wenn man Stunden später beim Pils an der Theke über den Film nachdenkt.
Die eine spielt im Duisburger Wedaustadion. 27. August 1991, der MSV gegen den Karlsruher SC, 15.000 Zuschauer, Schiedsrichter Hartmut Strampe. Bundesliga. Nach zehn Minuten fliegt eine weite Flanke über die Karlsruher Abwehrkette und landet auf dem linken Fuß von Tönnies. Knochige Schultern, dichter Walrossschnauzer, Frisur auf halb acht, Geburtsort Essen - solche Typen fahren im Ruhrgebiet unter Tage. Oder haben Gold im Fuß. Wie Tönnies, der den Ball sanft mit rechts ins lange Eck schiebt.
Ein wütender strohblonder Schrank zürnt und wütet. Es ist der junge Oliver Kahn. Und die Szene geht noch weiter. Ungeschnitten. Zwei Minuten später fliegt die nächste Flanke in den Strafraum der Gäste, Tönnies sieht den Ball auf Brusthöhe auf sich zufliegen, dreht sich dann instinktiv nach links, weg vom Tor, legt seinen Körper quer in die Luft, erwischt den Ball mit dem rechten Spann und zieht ihn an seinem Ohr vorbei ins Tor. Fallrückzieher, 2:0.
"Du hast noch viel mehr verschenkt"
Dann ein Schnitt. Die Kamera filmt ein Gespräch, das so wirklich stattgefunden hat. Im Bild ist Lothar Woelk, eine der größten Vereinsikonen des VfL Bochum und damals Mitspieler von Tönnies in Duisburg.
"Ich habe", sagt Woelk zu Tönnies, "vielleicht drei bis fünf Millionen Mark in meiner Karriere verschenkt, weil ich in Bochum geblieben bin. Aber du! Du hast noch viel mehr verschenkt!"
"Wie meinste dat?", fragt Tönnies und lässt den Schnäuzer wackeln.
"Du hättest ein Großer werden können", sagt Woelk. Und meint: Du hättest drei Millionen Mark im Jahr verdienen können.
Der schnellste Hattrick der Bundesliga-Geschichte
Wieder ein Schnitt. Wieder ein Tor. In der 15. Minute drückt Tönnies den Ball zum 3:0 über die Linie. Seine Mannschaft wird das Spiel 6:2 gewinnen. Und Tönnies hat dabei den damals schnellsten Hattrick in der Geschichte der Bundesliga geschossen. Nach der Partie steht Tönnies bei einem Feldfrager der RTL-Sendung "Anpfiff".
Tönnies: "Da war einfach das Glück, das 'n Torjäger braucht. Und das hab ich heute gehabt."
Reporter: "Heute en masse?"
Tönnies: "En masse, ja."
Da ist der Fußballer Tönnies auf dem Höhepunkt seiner Karriere. Wenige Monate zuvor hatte er den Aufstieg in die Bundesliga feiern dürfen, 29 Tore hatte er in der vorangegangenen Zweitligasaison erzielt. Und weil seine Laufbahn erst jetzt, mit 27, so richtig losging, und nicht bei seinen Vorgängervereinen Schalke, Bayreuth, Bocholt und Essen, sondern hier, beim MSV, liebten ihn die Duisburger. Der talentierte Loser, das schlampige Genie, dessen Füße eigentlich dafür gemacht waren, in Dortmund, Köln oder sogar München Tore zu schießen und das dann doch für Duisburg taten.
Ein Cut. 20 Jahre nach dem Hattrick gegen Kahn. Michael Tönnies ist inzwischen 51 Jahre alt. Seine Heldentaten von einst sind lange vorbei und fast vergessen. Tönnies war zwar Profifußballer, aber eben nicht professionell genug. "Beim Saufen und Laufen war ich immer der Letzte", wird er in seiner Biografie "Auf der Kippe" berichten.
80 Zigaretten am Tag
Er raucht zu viel, zu Höchstzeiten 80 Zigaretten, er säuft zu viel, später übernimmt er eine Kneipe, wird selbst sein bester Kunde und geht pleite. Schon im Sommer 1992, der MSV stieg direkt wieder ab, hatte er Duisburg verlassen, zwei Jahre klemmte er noch beim Wuppertaler SV dran, dann war seine Story im Keller mit all den anderen großen und kleinen Geschichten der großen und kleinen Fußballhelden gelandet. Im Keller wird man gerne vergessen.
20 Jahre nach dem Hattrick ist Tönnies todkrank. Und krank vor Todesangst. Bereits 2005 hatten die Ärzte ein Lungenemphysem im Endstadium festgestellt. Tönnies brauche dringend eine neue Lunge, und "eigentlich gibt es keine Alternative", wie er 2011 in einem Interview für die Zeitschrift "11 Freunde" erstmals öffentlich offenbart. "Aber ich bin nicht überzeugt davon, dass es klappt. Ich bin ein Angsthase und glaube, dass es sowieso nichts wird." Der strahlende Schnauzbartstürmer von früher wankt, von allen guten Lebensgeistern verlassen, dem Ende entgegen.
Dieser Film hat ein Happy End. Denn das Interview schlägt Wellen. Bis nach Duisburg, wo Fans mal wieder zeigen, zu was Fans imstande sind, und Tönnies in dessen Stammkneipe ein wunderbares Geschenk überreichen. Ein Album mit gesammelten Erinnerungen an früher, an Kahn und den Hattrick, an jene magischen Nachmittage, in denen der Micha zu "Tornado" wurde, links antäuschen, rechts vorbei, Tor!
An Dinge, die unvergessen machen, selbst wenn man in Vergessenheit gerät. Und Tönnies versteht. Er setzt seinen Namen auf die Spenderliste und wird dafür 2013 mit einer erfolgreichen Lungentransplantation belohnt. Am Tag, an dem er aus dem Krankenhaus nach Hause kommt, wird dem MSV Duisburg die Lizenz entzogen. Tönnies, der etwas von der Liebe zurückgeben will, die er erfahren hat, engagiert sich als Stadionsprecher. Erzählt von seinem Leben und lässt es dann aufschreiben. Eine schöne Geschichte.
Aber das Leben ist kein Film und manchmal nicht schön. Am 26. Januar 2017 ist Michael Tönnies überraschend gestorben. Mit nur 57 Jahren.