EM-Aus für Gündogan Der Fluch der Sechs
Joachim Löw hat bis zuletzt gebangt. Ob das Knie hält, ob der Spieler noch fit wird. Er brauchte ihn dringend für die Schlüsselposition im zentralen Mittelfeld. Am Ende hat es gerade noch geklappt.
Sami Khedira meldete sich im letzten Moment gesund und trug mit dazu bei, dass Deutschland 2014 Weltmeister wurde.
Der Khedira von 2016 heißt Bastian Schweinsteiger. Wieder wird es sehr knapp zugehen, und wieder geht es um die Position in der Spielfeldmitte.
Denn der Sechser, auf den der Bundestrainer eigentlich gesetzt hätte, stand ihm weder 2014 zur Verfügung noch bei der bevorstehenden Europameisterschaft. Ilkay Gündogan verpasst aufgrund einer ausgerenkten Kniescheibe verletzungsbedingt bereits sein zweites Turnier - und der Ausfall wiegt vermutlich noch schwerer als vor zwei Jahren.
"Das ist ein Rückschlag für uns"
"Das ist ein Rückschlag für uns", hat Löw in seiner ersten Reaktion auf die Verletztenmeldung gesagt, und das sind wahre Worte. Einen so passgenauen Spieler wie Gündogan hat die Nationalmannschaft ansonsten nicht. Schweinsteiger und Khedira sind seit 2014 auch nicht jünger und schneller geworden, bei der WM gab es zudem noch einen Philipp Lahm, der die Position jederzeit übernehmen konnte.
So wird sich Löw Alternativen überlegen müssen, und die wird er wohl auch dort suchen müssen, wo bisher noch nicht viel Nationalmannschaftserfahrung beisammen ist. Beim Dortmunder Julian Weigl zum Beispiel, dem BVB-Aufsteiger der Saison, dem Bayern-Emporkömmling Joshua Kimmich oder bei dem jungen Mönchengladbacher Mahmoud Dahoud, der eine herausragende Spielzeit hinter sich hat.
Vor allem Weigl und Dahoud haben allerdings erstmals eine anstrengende Bundesligasaison gespielt, dabei von ihren Trainern kaum Pausen bekommen. Ob sie schon in der Lage sind, anschließend noch einmal so ein großes ambitioniertes Turnier auf entsprechendem Niveau zu absolvieren, kann man zumindest fragen. Und Kimmich offenbarte auf der allerdings für ihn ungewohnten Position des Innenverteidigers bei den Bayern auch manche Abwehr- und Zweikampfschwäche.
Wenn man also im Schubfach mit dem Etikett Routine sucht, würde man schnell auf den Namen Gonzalo Castro von Borussia Dortmund treffen. Der ehemalige Leverkusener ist zwar etwas aus dem Fokus der Nationalelf verschwunden, aber beim BVB hat er zuletzt mehrheitlich anstelle von Gündogan gespielt - auch dann, wenn dieser fit war. Castro wird im Juni 29 Jahre alt, er hat das Standing für ein Turnier, ist defensiv verlässlich.
Emre Can hat bei Liverpool als Sechser überzeugt
Keine absoluten Neulinge beim DFB sind auch der Schalker Leon Goretzka und vor allem Liverpools Emre Can. Der Liverpooler wurde von Löw zuletzt auf der Position des rechten Außenverteidigers ausprobiert, man kann allerdings nicht wirklich behaupten, dass er dort restlos überzeugt habe. In England spielt er deutlich souveräner auf der Sechs, er wäre in jedem Fall eine Option. Goretzka hat immer dann, wenn es seine Gesundheit zuließ, gezeigt, was er auf der Position kann. Aber auch ihn haben Verletzungen immer wieder zurückgeworfen - und er ähnelt in seiner Spielweise eher Khedira denn dem passsicheren Gündogan.
Und dann gibt es da noch die beiden laufstarken Leverkusener Christoph Kramer und Lars Bender. Löw hat ein Faible für beide. Bayer-Kapitän Bender ist allerdings ziemlich verletzungsanfällig, Kramer ist ein Dauerrenner, hat aber sicher nicht das Format eines Gündogan, die Offensive zu befeuern.
Das wäre eher die Angelegenheit von Toni Kroos, der auch in der Nationalelf oft genug auf der Sechs gespielt hat. Seine Defizite im Abwehrverhalten hat er allerdings nie ganz ablegen können, außerdem würden seine Offensivimpulse dem Team dann möglicherweise fehlen.
In jedem Fall ist es mit dem heutigen Tag kniffliger für Löw geworden. Mit einem angeschlagenen Schweinsteiger in die EM zu gehen, dazu mit einem Khedira, der sich auch immer wieder mit Wehwehchen herumschlägt - das ist in jedem Fall ein Risiko. Auf der anderen Seite mag es auch zu wagemutig sein, auf die 20-Jährigen auf dieser Position zu setzen. Can und Kimmich haben bei der U21-EM im Vorjahr auch gezeigt, woran es ihnen zumindest damals noch mangelte.
Der einzige wirklich turnierharte Routinier, der voll im Saft steht, ist Philipp Lahm. Aber der will ja nicht mehr. Oder?