Fußballnationalspieler Jonathan Tah "Wir müssen aufhören damit, dass nur dunkelhäutige Spieler sich gegen Rassismus wehren"

Jonathan Tah: "Es muss vielmehr ein Wir werden und nicht die eine Gruppe gegen die andere"
Foto: Jörg Schüler/ Bongarts/Getty ImagesSPIEGEL: Herr Tah, wir würden gern mit einer provokanten These beginnen: Sind Sie das Bayer Leverkusen unter den deutschen Nationalverteidigern?
Tah: Woran machen Sie das fest?
SPIEGEL: Wie Ihr Klub bringen Sie eigentlich fast alles mit für ganz oben. Sie sind aber beide noch nicht wirklich in der Elite angekommen. Sie sind weder schon ein gestandener Nationalspieler, noch spielen Sie bei einem Spitzenklub. Über Bayer sagt man seit Jahren, dass der Klub ein tolles Team habe, aber um den Titel konnte Leverkusen nie wirklich mitspielen.

Jonathan Tah, 23, wurde in Hamburg als Kind einer Deutschen und eines Ivorers geboren. 2013, mit 17 Jahren, gab der Innenverteidiger sein Profidebüt beim Hamburger SV. Nach einer Leihe an Fortuna Düsseldorf kam er 2015 zu Bayer Leverkusen. Im selben Jahr erhielt er die Fritz-Walter-Medaille für den besten deutschen Nachwuchsspieler der Altersgruppe U19. 2016 nominierte ihn Bundestrainer Joachim Löw für die EM in Frankreich nach. Tah befand sich damals schon im Florida-Urlaub. Bisher kommt der 1,94 Meter große Abwehrspieler auf acht Länderspiele.
Tah: Einen Titel haben wir in meiner Zeit noch nicht gewonnen. Das stimmt schon. Aber der Vergleich hinkt. Grundsätzlich weiß ich, dass bei mir noch mehr möglich ist. So selbstbewusst bin ich. Und Leverkusen kommt mir bei Ihnen zu schlecht weg. Ich weiß aber die Lösung: Wir gewinnen in dieser Saison mit Bayer einen Titel, dann funktioniert Ihre These nicht mehr.
SPIEGEL: Durch den Kreuzbandriss von Niklas Süle und die weitere Nichtberücksichtigung von Mats Hummels ist in der Nationalelf-Innenverteidigung eine Vakanz entstanden. Glauben Sie, dass Sie die Lücke schließen können?
Tah: Ich bin der Meinung, dass man auf dem Platz mit Taten sprechen, und nicht daneben groß für sich werben sollte. Ich weiß, was ich kann. Sollte mir der Bundestrainer das Vertrauen geben, werde ich alles tun, um ihn zufrieden zu stellen.
SPIEGEL: Beim 2:4 gegen die Niederlande im September unterlief Ihnen ein Eigentor, und Sie hatten mehrere unglückliche Szenen. Danach gab es viel Kritik. Wie haben Sie das wahrgenommen?

Beim 2:4 gegen die Niederlande im September unterlief Jonathan Tah ein Eigentor: "Ich versuche, mit Fehlern konstruktiv umzugehen."
Foto: Matthias Hangst / Getty ImagesTah: Ich habe mich ein wenig über die Schärfe der Kritik gewundert. Aber ich habe auch gelernt, die Dinge selbst einschätzen zu können. Ich weiß, was schlecht war und was schlechter gemacht wurde.
SPIEGEL: In der Einzelkritik des SPIEGEL hieß es: "Es scheint zwei Jonathan Tahs zu geben: Den Leverkusener Verteidiger, der schon herausragende Spiele bei Bayer gezeigt hat, und den unsicheren, unglücklichen Nationalverteidiger."
Tah: Ihre Kritik fiel ja noch verhältnismäßig sanft aus. Aber es ist nicht fair, die Leistungen im Klub mit denen in der Nationalelf zu vergleichen. Bei Leverkusen habe ich schon viel mehr Spiele gemacht und konnte mir die nötige Sicherheit holen. In der Nationalelf bin ich erst noch auf dem Weg dahin.
SPIEGEL: Wie gehen Sie mit Fehlern um? Verdrängen Sie sie in die hinterletzten Ecken der Erinnerung, um weiterzumachen, oder konfrontieren Sie sich gezielt damit?
Tah: Ich versuche, mit Fehlern konstruktiv umzugehen. Ich arbeite seit einiger Zeit zusätzlich mit einem Privattrainer, der mir jede einzelne meiner Szenen aus einem Spiel zeigt, und dann sprechen wir darüber, was gut war und was ich hätte besser machen können.
SPIEGEL: Wie genau muss man sich das vorstellen?
Tah: Wir schauen uns taktische Dinge an, aber auch technische wie meine Ballannahme. Ich lege großen Wert auf Statistiken. Dabei interessiert mich nicht, ob meine Passquote bei hundert Prozent liegt. Denn daraus lerne ich nichts. Mich interessiert eher, wie oft ich den Ball wirklich nach vorn und nicht nur nach hinten und zur Seite gespielt habe. Das ist doch entscheidender.
SPIEGEL: Ist es nicht ungewöhnlich, zusätzlich zum Vereinstrainer noch mit einem eigenen Trainer zu arbeiten?
Tah: Unser Trainer in Leverkusen, Peter Bosz, nimmt sich sehr viel Zeit, um auf individuelle Bedürfnisse der Spieler einzugehen. Aber er kann das nicht im Detail für jeden Spieler und jedes Spiel leisten. Doch ich habe das Gefühl, dass ich das für mich brauche. Deshalb habe ich mir privat jemanden dafür gesucht.

Bei der U21-EM im Sommer schaffte es Jonathan Tah als Kapitän mit der deutschen Auswahl bis ins Finale. Das Endspiel gegen Spanien ging verloren.
Foto: Gribaudi/ ImagePhoto/ imago imagesSPIEGEL: Sie sind seit 2016 bei der Nationalelf dabei, haben aber erst acht Länderspiele bestritten. Sie waren lange ein Pendler zwischen der A-Nationalmannschaft und der U21. Wie sehen Sie Ihre Rolle in der Zukunft?
Tah: In den vergangenen drei Jahren habe ich mich manchmal gefragt: Bin ich eigentlich ein richtiger A-Nationalspieler oder nur ein halber? Doch das ist jetzt vorbei, da ich nicht mehr für die Nachwuchsteams spielen kann. Ich will jetzt beweisen, dass ich der Nationalelf wirklich helfen kann. Natürlich möchte ich in Zukunft mehr Spielzeit bekommen, aber ich merke auch, dass mir mehr und mehr Vertrauen gegeben wird.
SPIEGEL: Wie schauen Sie auf die Debatte über Mats Hummels? Es gibt viele Experten, die dem Bundestrainer raten, ihn zurückzuholen.
Tah: Da sollte man sich als Spieler nicht einmischen. Fest steht: Mats hat unfassbar viel für Deutschland geleistet. Zu ihm habe ich immer aufgeschaut. Aber jetzt ist eine andere Situation eingetreten. Gerade weil er nicht mehr dabei ist, sind jetzt Spieler wie ich, aber auch andere gefragt, mehr Verantwortung zu übernehmen.
SPIEGEL: Als Sie 16 waren, wurden Sie vom TV-Sender Sky für eine Langzeit-Dokumentation zusammen mit drei anderen Nachwuchshoffnungen begleitet. Auch dabei waren Sinan Kurt, Raif Husic und Patrick Flügge. Ein wirklich gestandener Bundesligaspieler sind aber nur Sie geworden. Warum?

Seit 2015 spielt Jonathan Tah (r.) für Bayer Leverkusen. Bei der Werkself ist der 23-Jährige der Abwehrchef.
Foto: SASCHA STEINBACH/EPA-EFE/REXTah: Ich kann nur für mich sprechen. Ich hatte immer den Willen, mehr aus mir herauszuholen. Als ich mit 16 zum ersten Mal bei den HSV-Profis mittrainieren durfte, habe ich gemerkt, dass da alle gut waren. Mein Talent allein hat plötzlich nicht mehr ausgereicht. So habe ich gelernt, dass ich ständig an meinen Schwächen, aber auch den Stärken arbeiten muss, um es zu schaffen. Und das mache ich bis heute.
SPIEGEL: Wenn man ein gestandener Bundesligaprofi geworden ist, wie schafft man es dann zu einem Verteidiger von internationalem Format zu werden? Das ist ja die Schwelle, an der Sie gerade stehen.
Tah: Ich denke, da kommt es dann in erster Linie auf Detailarbeit an. Man muss bereit sein, wirklich jede Kleinigkeit zu verbessern.
SPIEGEL: Ist dieser letzte, vermeintlich kleinere Schritt schwerer als der große, erste Schritt vom Nachwuchs zu den Profis?
Tah: Es ist zumindest der Schritt, der mich als Spieler und Persönlichkeit mehr fordert. Denn ich könnte ja zufrieden damit sein, was ich schon erreicht habe. Wissen Sie, wenn es gut läuft, dann bekommt man als Profi ganz schnell das Gefühl vermittelt, dass man schon wirklich ein Großer ist. Da dann den Fokus zu behalten und sich auf die Detailarbeit zu konzentrieren, ist schwer. Aber nur die, die das schaffen, werden wirklich gute Spieler. Und daran arbeite ich.

Kai Havertz (M.) ist Jonathan Tahs Mitspieler in Leverkusen und gilt als das größte deutsche Talent. "Er ist kein Mensch, der irgendwann abhebt", sagt Tah.
Foto: Dean Mouhtaropoulos/Bongarts/Getty ImagesSPIEGEL: Ihr Leverkusener Mitspieler Kai Havertz wird von vielen Experten als das größte deutsche Talent bezeichnet. Tut ihm das gut?
Tah: Je stärker man gelobt wird, desto stärker ist der Gegenwind, wenn es mal nicht so läuft, wie sich die Leute das vorstellen. Kai kann aber damit umgehen. Er ist kein Mensch, der irgendwann abhebt. Kai ist sehr selbstkritisch, schafft es jedoch, sich eine besondere Leichtigkeit zu bewahren.
SPIEGEL: Wie kommen Sie darauf?
Tah: Ich erinnere mich, wie wir mit Leverkusen 2016 gegen Tottenham im Wembley-Stadion gespielt haben. Wir standen im Spielertunnel, und ich war sehr aufgeregt. Dann habe ich zu Kai herübergeschaut, aber er war kein bisschen gestresst. Später wurde er eingewechselt, aber auch da dasselbe Bild: keine Nervosität, nichts. Ich dachte: Wie geht denn das, dass der gefühlt überhaupt keinen Puls hat?
SPIEGEL: Damals war Havertz gerade mal 17 Jahre alt.
Tah: Genau. Das war sehr beeindruckend zu sehen. Seitdem weiß ich: Kai spielt einfach sein Spiel und lässt sich von nichts beeindrucken. Das ist schon mal eine sehr gute Voraussetzung, um es nach ganz oben zu schaffen.
SPIEGEL: Es gibt im internationalen Fußball gerade wieder eine Debatte über Rassismus. Zuletzt wurden englische Spieler in Bulgarien massiv beleidigt. Aber auch bei der deutschen Nationalmannschaft gab es im März einen Vorfall, als in Wolfsburg Fans deutsche Spieler mit Migrationshintergrund rassistisch beleidigt haben. Sie haben ivorische Wurzeln. Haben Sie in Ihrer Karriere Erfahrungen mit Rassismus gemacht?
Tah: Es gab das immer mal wieder von gegnerischen Fans, aber nie in den Mannschaften, in denen ich gespielt habe. Die Situation in Wolfsburg hat mich traurig gemacht. Man fühlt sich ein bisschen hilflos. Ich habe mich damals gefragt, was man denn noch alles machen muss, damit das endlich aufhört.
SPIEGEL: Haben Sie mal überlegt, sich bei diesem Thema stärker zu engagieren?
Tah: Ja. Ich finde aber, wir müssen aufhören damit, dass nur dunkelhäutige Spieler sich gegen Rassismus wehren. Dann entsteht ganz schnell das Bild: die Dunkelhäutigen gegen die Rassisten. Dabei betrifft das doch alle. Ich finde, es müssen sich allgemein viel mehr Menschen für mehr Toleranz einsetzen - ob beim Thema Hautfarbe, Religion oder auch Sexualität.

US-Nationalspielerin Megan Rapinoe wurde während der WM im Sommer zur Ikone des Kampfs für Gleichberechtigung
Foto: FRANCK FIFE / AFPSPIEGEL: Das Problem ist aber, dass es besonders im Fußball nur wenige ganz konkret machen.
Tah: Ja, weil viele unsicher sind, wie die Reaktionen ausfallen. Manchmal hat man eben das Gefühl, dass es eher schwierig ist, öffentlich seine Meinung zu sagen.
SPIEGEL: In England gibt es Raheem Sterling, der eine Art Symbolfigur im Kampf gegen Rassismus geworden ist. Im Fußball der Frauen ist es Megan Rapinoe, die für mehr Toleranz kämpft. Imponiert Ihnen das?
Tah: Ich bewundere Sterling und Rapinoe. Das zeigt, dass sie die Courage haben, ihre Meinung zu äußern. Und es zeigt, dass man wirklich Gehör finden kann.
SPIEGEL: Bräuchte es in Deutschland nicht auch solche Figuren im Kampf gegen Diskriminierung?
Tah: Ja, schon. Aber ich finde, dass jeder diese Rolle ausfüllen kann. Es muss kein dunkelhäutiger Spieler sein oder eine homosexuelle Spielerin, die für mehr Toleranz kämpfen. Es muss vielmehr ein Wir werden und nicht die eine Gruppe gegen die andere.