Spanien vor der Nations League gegen Deutschland
Ramos und die Revolutionäre
Um seinen Kapitän und Rekordspieler Sergio Ramos will Spaniens Trainer Luis Enrique mit Tempo statt Tiki-Taka eine neue Mannschaft bauen. Es ist nicht der erste Versuch. Hinter der Selección liegen chaotische Jahre.
Im Idealfall bekommt Spanien viele Elfmeter. Dann tritt Sergio Ramos an, und am Punkt treffen sich all seine Qualitäten: Technik und Chuzpe. Die Lust am Rampenlicht und an der Verantwortung. Konzentrationsfähigkeit und Reaktionsschnelligkeit, wenn er so lange wartet, bis der Torwart dann doch irgendwo hin wackelt. Oder bis der zu lange stehen geblieben ist, und er nur noch einschieben braucht. Im Wilden Westen hätte Ramos jedes Duell gewonnen. Im Fußball hat er 19 Elfmeter am Stück verwandelt.
Andererseits kann natürlich nicht der Anspruch sein, Partien durch Strafstöße zu lösen. Nicht für Spanien, das mal als Maßstab dafür galt, wie kunstvoll das Spiel gespielt werden kann. Das mit Kontrolle, aber auch Fantasie zu einem einmaligen Titel-Triple kreiselte, zwei Europameisterschaften und eine Weltmeisterschaft in Serie zwischen 2008 und 2012.
Auch ein Leipziger Spieler ist im Aufgebot
Ramos, mit 170 Einsätzen der europäische Feldspieler mit den meisten Länderspielen, ist der letzte im aktuellen Team, der bei allen drei Titeln dabei war. Der Fixpunkt einer "Selección", in der sonst nur noch Barcelonas Stratege Sergio Busquets und Sevillas Außenbahnspieler Jesús Navas das Gefühl eines Titelgewinns mit der Auswahl kennen. In der Trainer Luis Enrique vor dem Nations-League-Match in Deutschland die etablierten Nachfolger aber weitgehend überspringt und mit so vielen neuen Gesichtern weitermacht, dass die Presse von "Revolution" schreibt.
Berufen sind etwa die Innenverteidiger Eric García (19, Manchester City) und Pau Torres (23, Villarreal), die Mittelfeldspieler Dani Olmo (22, Leipzig), Mikel Merino (24, San Sebastián) und Óscar Rodríguez (22, gerade von Leganés zu Sevilla gewechselt) oder die Angreifer Ferrán Torres (20, von Valencia zu City), Adama Traoré (24, Wolverhampton) und Ansu Fati (17, Barcelona). Gerade die Stürmerwahl zeigt, dass er die Champions League genau analysiert hat: statt um Tiki-Taka geht es ihm um Tempo.
Sein Kader kann als Misstrauensvotum gegen die Jahrgänge gewertet werden, die Spaniens Erfolgsära eigentlich fortschreiben sollten. Aus der hoch bewerteten Generation, die 2013 die U21-EM gewann, sind nur noch Rechtverteidiger Dani Carvajal (Real Madrid), Stürmer Rodrigo Moreno (von Valencia zu Leeds United) und Bayerns Regisseur Thiago dabei, der sich allerdings in der Nationalelf auch noch nie unersetzlich machte. Stratege Koke, Künstler Isco, Angreifer Morata – alle bleiben außen vor. Selbst aus dem Nachfolgejahrgang hat Luis Enrique mit Saúl und Dani Ceballos die beiden Mittelfeldspieler wieder fallen gelassen, die er nach seiner Amtsübernahme 2018 zunächst durchaus erfolgreich als Eckpfeiler seiner Erneuerung einsetzte.
Spaniens Trainer Luis Enrique
Foto: Domenic Aquilina/EPA-EFE/REX
Spaniens große Ära begann, als die Generation um Xavi und Iker Casillas bei den Junioren abräumte und diese Welle dann bei den Erwachsenen weiter ritt. Die nächsten Jahrgänge machten es ihnen nach. Doch der Prozess ist ins Stocken geraten. Spaniens Nachwuchsmannschaften reüssieren zwar immer noch, die Ausbildung bleibt exzellent. Aber der Transfer zu absoluter Weltklasse bei den Erwachsenen gelingt längst nicht mehr so reibungslos. Die besten einheimischen Spieler der abgelaufenen Ligasaison in Spanien waren Ramos, 34, und sein bereits vor zwei Jahren aus der Nationalelf zurückgetretener Positionskollege Gerard Piqué, 33.
Wo das Vorrunden-Aus bei der WM 2014 noch als Betriebsunfall durchging und die Achtelfinalniederlage bei der EM 2016 als Scherbengericht der goldenen Epoche, wird der Weg zu einem gelungenen Neuanfang seither von blankem Chaos begleitet. Bei der WM 2018 verlor Julen Lopetegui wegen seines Folgevertrags mit Real Madrid zwei Tage vor Turnierbeginn den Job. Das Jahr 2019 erlebte die Schlammschlacht zwischen Interimscoach Robert Moreno und Luis Enrique, der sich wegen des Krebstods seiner Tochter eine Auszeit genommen hatte, die sein ehemaliger Assistent allerdings als Verzicht verstand – jedenfalls bis zur EM 2020. Dann kam Corona, und so steht Luis Enrique erst jetzt wieder an der Seitenlinie, zum ersten Mal seit März 2019.
Bei Real kümmert sich Ramos um die Jungen
Bei der Suche nach dem verlorenen Kompass steht er vor einem Puzzle in allen Mannschaftsteilen. Die beiden in England beschäftigten Torhüter Kepa Arrizabalaga und David de Gea stecken dermaßen in der Dauerkrise, dass viele Beobachter schon den direkten Übergang auf den neuen dritten Mann fordern, den 23-jährigen Unai Simón von Athletic Bilbao. In der Abwehr casteten Luis Enrique und Moreno bislang erfolglos nach dem idealen Partner für Ramos. Im Angriff fehlt ein Torgarant, und dennoch fehlt im Kader der beste einheimische Schützen der abgelaufenen Saison, Gerard Moreno (Villarreal). Und selbst im einst so stilbildenden Mittelfeld ist die Zeit der Opulenz vorbei. Am meisten überzeugte zuletzt noch Fabián Ruiz (Neapel).
Auftritt Ramos also: Der Kapitän soll die erneut verjüngte Auswahl mit seinen viel gerühmten Leader-Qualitäten wieder an die Spitze führen. Auf dem Platz schiebt er die Abwehrlinie nach vorn wie wenige sonst, daneben gilt er als respektierter Übervater. Bad Boy nach außen, gute Seele nach innen: Bei seinem Klub Real Madrid kümmert er sich seit Jahren wie kein Zweiter um die Integration der Jungen.
"Nie hat er Angst, nie macht er sich Sorgen, immer ist er optimistisch", sagte sein Ex-Trainer Carlo Ancelotti mal über ihn. Eigenschaften, wie sie die Selección bei ihrem erneuten Neuanfang nur zu gut gebrauchen kann.