Deutsche Nationalelf nach Süle-Verletzung Ein Königreich für einen Abwehrchef

Bundestrainer Joachim Löw muss sich jetzt Gedanken über Alternativen machen
Foto: Ina Fassbender / AFPNiklas Süle ist der Traum eines jeden Arbeitgebers. Seit er 2017 zu den Bayern nach München wechselte, hat er keinen einzigen Arbeitstag verpasst. Jedes Training, jedes Spiel, jeder Sponsorentermin: Süle war da. Kleinere Verletzungen, mal ne Erkältung? Gab es beim Verteidiger nicht.
Süles makellose Bilanz endete am Samstag. Gegen den FC Augsburg musste er bereits nach zwölf Minuten ausgewechselt werden. Die Diagnose: Kreuzbandriss im linken Knie, eine der schlimmsten und langwierigsten Verletzungen, die sich ein Fußballer zuziehen kann. Schon einmal hatte sich Süle das Kreuzband gerissen, 2014 war das. Es folgte die einzig größere Pause in seiner Karriere.

Niklas Süle zog sich gegen Augsburg einen Kreuzbandriss im linken Knie zu
Foto: Sven Simon/ imago imagesSüle wird nun viele Fehltage sammeln. Bayern-Präsident Uli Hoeneß schloss bereits eine Teilnahme an der EM im Sommer aus. Süles Verletzung wirft die Planung seiner Trainer durcheinander: Sowohl Bayern-Coach Niko Kovac als auch Nationaltrainer Joachim Löw haben Süle zum Chef ihrer Abwehrreihen erkoren. Doch während Kovac Alternativen zur Verfügung stehen, gehen Löw diese aus.
Koloss und Sprinter
Süle zeichnet ein ganz besonderes Profil aus. Seine Gestalt ist hünenhaft: Knapp 100 Kilogramm bringt er auf die Waage, Sky zufolge ist er der schwerste Feldspieler der Bundesliga. Zugleich findet er sich jede Saison unter den zehn schnellsten Bundesligaspielern, er erreicht eine Spitzengeschwindigkeit von bis zu 35 Kilometern pro Stunde.
Süle beherrscht beide Facetten eines guten Verteidigers: Er kann wuchtige Stürmer mit seiner physischen Präsenz im direkten Zweikampf wegblocken, kann aber auch Laufduelle gegen quirlige Sprinter gewinnen.
Auch mit dem Ball gehört Süle zu den stärksten Innenverteidigern Deutschlands. Seine Pässe sind weniger spektakulär als die langen Schläge eines Mats Hummels oder eines Jérôme Boatengs. Süle spielt jedoch ebenfalls präzise Bälle. Er traut sich auch, mit dem Ball am Fuß in die gegnerische Hälfte vorzurücken. Süle ist also der Prototyp eines modernen Innenverteidigers.
Kovac hat Alternativen, Löw nicht
Bayern-Trainer Kovac steht nun vor der Aufgabe, Süle zu ersetzen. Mit gerade einmal zwanzig Feldspielern haben die Bayern den kleinsten Kader der Liga. Aber auf der Innenverteidiger-Position sind sie solide aufgestellt: Mit Boateng, Lucas Hernández, Benjamin Pavard sowie Javi Martínez stehen vier Alternativen unter Vertrag.
Keiner der Kandidaten vereint Süles Physis und Geschwindigkeit. Statt Süle direkt zu ersetzen, könnte Kovac dessen Aufgaben auf zwei Schultern verteilen: Hernández und Pavard bringen Geschwindigkeit mit, Boateng und Martínez die nötige Körperkraft. Auch ohne Süle stellen die Bayern eine der, wenn nicht sogar die stärkste Innenverteidigung der Liga.
Für Bundestrainer Löw gestaltet sich die Frage nach einem Ersatz schwieriger. DieAusbootung von Boateng und Hummels raubt ihm Optionen. Von den aktuellen Kandidaten kann niemand Süle wirklich ersetzen.
Jonathan Tah (1,95 Meter groß, 95 Kilogramm schwer) kommt von der Körperstruktur Süle nahe. Ihm fehlt jedoch die Konstanz, der Leverkusener hatte zuletzt beim Länderspiel gegen die Niederlande (2:4) mehrere Fehler im Spiel. Matthias Ginter ( Borussia Mönchengladbach) ist über zehn Kilogramm leichter und aufgrund seiner langsameren Beschleunigung ein gänzlich anderer Verteidigertyp als Süle. Ähnliches gilt für den hochtalentierten Thilo Kehrer (Paris Saint Germain), den Löw bisher meist als Außenverteidiger eingesetzt hat.
Süles Verletzung erschwert Löw auch die Wahl der richtigen Taktik. Zuletzt bevorzugte der Bundestrainer oft eine Dreierkette, hierfür gehen ihm aber die Verteidiger aus. Emre Can spielte gegen Argentinien (2:2) und Estland (3:0) in der Innenverteidigung, er überzeugte in dieser Rolle auch schon beim FC Liverpool unter Jürgen Klopp. Gegen Estland sah er nach einem Stellungsfehler früh die Rote Karte. Bei seinem Verein Juventus erhält er aktuell kaum Einsatzzeiten.
Anderen Verteidigern fehlt die Erfahrung auf internationalem Parkett - Herthas Niklas Stark etwa oder auch dem jüngst nominierten Freiburger Robin Koch. Löw sieht ihn zwar als Innenverteidiger, die Mehrzahl seiner 58 Bundesligaspiele bestritt Koch jedoch im defensiven Mittelfeld. Weltmeister Skhodran Mustafi wiederum steht bei seinem Klub Arsenal auf dem Abstellgleis.

Antonio Rüdiger (Mitte) im Zweikampf während des Nations-League-Spiels zwischen Deutschland und den Niederlanden
Foto: AFPEs gibt eigentlich nur einen einzigen deutschen Verteidiger, der Süle nahekommt: Antonio Rüdiger. Er ist zwar knapp zehn Zentimeter kleiner, überzeugt jedoch wie Süle mit seiner Körperlichkeit im direkten Zweikampf. Beim FC Chelsea hat er in den vergangenen zwölf Monaten einen enormen Sprung gemacht. Rüdiger mutierte zum Ballverteiler: In der vergangenen Saison spielten in Europas fünf Top-Ligen nur fünf Innenverteidiger mehr Pässe als Rüdiger. Einer davon war Süle.
Führungsfigur gesucht
Diese Statistik ist insofern interessant, als mit Süle nicht nur ein starker Innenverteidiger wegfällt, sondern auch Löws designierter Abwehrchef. Der Bundestrainer wollte seine Abwehrkette um Süle herumbauen, er sollte seine Mitspieler anweisen und die Last des Spielaufbaus schultern. Außer Rüdiger gibt es keinen deutschen Verteidiger, der das internationale Format besitzt, diese Rolle außerhalb und auf dem Platz auszufüllen. Das Problem: Rüdiger hat bisher noch kein einziges Spiel gemacht diese Saison, zuletzt fehlte er verletzt.
Auch deshalb werden dieser Tage die Rufe lauter, Löw möge Weltmeister Hummels begnadigen. Dessen Fähigkeitsprofil deckt sich zwar kaum mit dem von Süle. Hummels ist wesentlich langsamer, Zweikämpfe gewinnt er mit dem Fuß und nicht mit dem Körper. Seine Spielweise ist dafür spektakulärer, Hummels Pässe können ganze Abwehrreihen aushebeln. Hummels ist mehr ein Gestalter.
In einem Punkt wäre Hummels' Reaktivierung sinnvoll: Er wäre als Weltmeister und international erfahrener Spieler prädestiniert für den Posten als Abwehrchef. Als vor den Spielen gegen Argentinien und Estland einige Abwehrspieler absagen mussten, hatte Löw aber auch auf Hummels verzichtet und erklärt, auf andere Spieler setzen zu wollen.
Sollten die kommenden Länderspiele gegen Weißrussland (16. November) und Nordirland (19. November) ergeben, dass Rüdiger die Rolle als Abwehrchef nicht ausfüllen kann, werden die Rufe nach Hummels wohl wieder lauter.