Im französischen Fußball war Olympique Marseille stets die Skandalnudel. Nun übertrifft sich OM selbst: mit Gewalt und Kabarett. Der Verein ist das Schaufenster für eine Liga, die in einer schweren Krise steckt.
Marseille-Fans im August 2020, nachdem der FC Bayern das Champions-League-Finale gegen OMs Erzrivalen Paris gewonnen hatte
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»Ich will nichts von OM, ich will kein Geld, ich will einfach nur weg«: Die letzten Sätze von André Villas-Boas als Trainer von Olympique Marseille taugen zum Klassiker. Selten hat sich ein Trainer so desillusioniert aus seinem Job verabschiedet wie der Portugiese am Dienstag. Selten traf einer so passend das Lebensgefühl eines Klubs. Jedenfalls das von denjenigen, die das Privileg und den Schmerz haben, in ihm zu arbeiten.
OM schafft irgendwann alle, das gehört quasi zur Folklore. Die Hafenstadt Marseille ist anders als der meiste Rest von Frankreich: südlicher, bunter, lauter, schmutziger, gefährlicher. Und sie hat einen Fußballverein nach ihrem Abbild: anarchisch und flamboyant, eine historische Skandalnudel.
Wem gelingt es schon, in derselben Woche die Champions League zu gewinnen und ein Ligaspiel zu verschieben, das später zum Zwangsabstieg in die zweite Liga führte? Natürlich nur Olympique. Das war im Mai 1993.
Ein Banner in Marseille, mit dem die Absetzung des Präsidenten gefordert wird: Jacque-Henri Eyraud
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Im Winter 2021 reibt sich die Fußballwelt mal wieder verwundert die Augen. Zu sehen bekam sie am Samstag die hässlichste Seite der »folie«, des Irrsinns. Mehrere Hundert Ultras stürmten vor der geplanten Ligapartie gegen Rennes das Vereinsgelände. Sie zündeten Bäume an, marodierten, stahlen. Villas-Boas und Verteidiger Álvaro González versuchten zu beschwichtigen, sie wurden attackiert und um Wertgegenstände erleichtert. Der Rest versteckte sich angsterfüllt auf den Zimmern. Der amerikanische Klubeigentümer Frank McCourt verglich den Mob sogar mit den Trumpisten am Kapitol: »Was in Washington passierte und was in Marseille passierte, folgt einer vergleichbaren Logik.«
»Wie wenn im Restaurant die Köche mit Besteck beworfen würden«
Fußball in Marseille, das ist etwas für Abenteurer und Adrenalinjunkies. Auf rund 27.000 wird die Zahl der Ultras geschätzt, die das Stade Vélodrome mit seinen ovalen Tribünen – auch das Stadion ist hier nicht einfach nur ein normales Stadion – normalerweise in ein Lichtermeer verwandeln. Fußball in Marseille bewegt sich am Limit. Einerseits für die Gegner: »Wie wenn im Restaurant die Köche mit Besteck beworfen würden«, beschrieb Neymar, der Star des verhassten Rivalen Paris Saint-Germain, einmal den Wurfgeschosshagel von den Rängen. Andererseits aber auch für die OM-Profis selbst: Patrice Evra schlug 2017 beim Aufwärmen vor einem Auswärtsspiel in Guimarães zurück, nachdem eigene Fans ihn bedrohten. Er wurde daraufhin, wohl auf Druck der Ultras, entlassen.
Und schließlich sind da noch die Stadt und ihre Kriminalität: Verteidiger Hilton etwa, Mitglied der letzten Meistermannschaft 2010, wurde in seinem Haus ausgeraubt und mit einem Gewehr geschlagen, während man Frau und Kinder als Geiseln hielt. Er ließ sich daraufhin nach Montpellier transferieren.
Fans von OM beim Spiel gegen Lyon 2019: Fußball in Marseille bewegt sich am Limit
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An so etwas wie am Samstag konnten sie sich aber auch in Marseille nicht erinnern. Ja, es hatte sich etwas zusammengebraut nach dem jüngsten Absturz ins Tabellenmittelfeld, schon bei einer vergangenen Heimniederlage gegen den Tabellenletzten Nîmes hatten sie außerhalb des Stadions gepöbelt. »Hätten Leute hineingekonnt, wärt ihr bis drei Uhr morgens nicht nach Hause gekommen«, soll Präsident Jacques-Henri Eyraud danach intern den Profis zugerufen haben. Der ungeliebte Funktionär spürte den Druck; ihm, aber auch McCourt oder formschwachen Stars wie Florian Thauvin und Dimitri Payet galten vergangene Woche feindliche Schmierereien in der Stadt. Es waren Vorboten der Gewalt.
Der Präsident als erstes Feindbild
Villas-Boas, polyglotte Ex-Trainersensation des FC Porto, fühlte sich an den Hooliganüberfall auf die Akademie von Sporting Lissabon vor drei Jahren erinnert, nannte aber trotzdem einen anderen Hauptgrund für seine Flucht. Seit dem Abgang von Sportdirektor Andoni Zubizarreta lag er mit dem OM-Management über Kreuz. Schon im Sommer hielten ihn angeblich nur die Spieler von einem Rücktritt ab. Zuletzt flüchtete er sich immer öfter in Sarkasmus: »Um scheiße in der Champions League zu sein, muss man sich zumindest für die Champions League qualifizieren«, erinnerte er nach desaströsen Europacup-Auftritten: »Wir haben es geschafft, und wir sind scheiße.«
Das Fass zum Überlaufen brachte die Nachricht, OM habe als Ersatz für den aus Finanznöten verkauften Morgan Sanson den Mittelfeldmann Olivier Ntcham ausgeliehen: »Das ist ein Spieler, den ich abgelehnt hatte«, sagte Villas-Boas.
Den Fans gilt Präsident Eyraud als erstes Feindbild. Sie sehen in dem Absolventen von Eliteuniversitäten und ehemaligen Disney-Manager einen kühlen Technokraten, für den Fußball nur Nummern sind. »Jacques-Henri Eyraud muss verstehen, dass er am falschen Platz ist«, zürnte am Dienstag auch der legendäre, mittlerweile krebskranke Altpatron des Klubs, Bernard Tapie, mit heiserer Stimme. »Diese Leute sind dabei, ein über 100 Jahre altes Image zu zerstören.« Als die Interviewerin von »France Info« daran erinnerte, dass Eyraud gern das Aufräumen mit OMs Schmuddeltradition zu seinem Kernanliegen erklärt, brach Tapie – Eigentümer in jenem Jahr 1993 – wütend das Gespräch ab.
Frankreichs Sportzeitung »L'Équipe« traf anderntags ziemlich gut die Stimmung. Zum Foto des abtretenden Villas-Boas titelte sie: »Rette sich, wer kann.«
Die Schlagzeile lässt sich allerdings auch erweitern auf den Zustand der gesamten Ligue 1. Zwar ist es mit dem Dreikampf zwischen Lille, Lyon und Abonnementmeister Paris derzeit mal richtig spannend. Doch parallel spitzt sich bedrohlich eine Finanzkrise im französischen Fußball zu.
Bis heute Nacht soll ein Krisengipfel die vertrackte Situation bei den TV-Rechten klären, nachdem sich ein vermeintlicher Traumvertrag mit dem spanischen Verwerter Mediapro in einen Albtraum verwandelt hatte. Im Dezember gab der Anbieter die Rechte zurück, weil er sie nicht bezahlen konnte. Eine Neuausschreibung brachte bis Montag kein zufriedenstellendes Ergebnis. Momentan ist nicht klar, ob und wie der Rest der laufenden Saison noch auf die Bildschirme gebracht werden kann. Dabei sind die Klubs durch Corona und den Abbruch der vergangenen Spielzeit ohnehin schwer angeschlagen und mussten den Staat bereits einmal um ein 224-Millionen-Euro-Darlehen anpumpen.
Gewaltproblem auch im Zeitalter der Geisterspiele
Wie die Vorfälle in Marseille zeigten, wird der französische Fußball außerdem nicht mal in Zeiten leerer Stadien sein Gewaltproblem los. So besonders feurig die OM-Fans auch gelten, so wenig stehen sie mit manchem Gebaren allein da. Auch in Saint-Étienne enterten Fans am Wochenende das Trainingsgelände und umzingelten die Profis. Immerhin beließen sie es beim Skandieren von Schlachtrufen.
Zurückgetretener Trainer André Villas-Boas: »Wir sind scheiße«
Foto: JEAN-PAUL PELISSIER / REUTERS
Weit oben im Norden verhinderte 2018 nur eine entschlossene Security, dass die Ultras von Lille bei einer Jagd auf die eigenen Spieler eine Massenpanik auslösten. Ohnehin unvergessen sind die Szenen ein Jahr zuvor auf Korsika, wo Heimfans von Bastia die Gästespieler von Lyon verprügelten.
Für OM geht es am Abend nach Lens (21 Uhr) und darum, wenigstens den sportlichen Fall zu stoppen. Welcher Trainer sich künftig mit dem Umfeld herumschlagen darf, ist noch unklar. Villas-Boas hinterlässt unter zahlreichen Bonmots auch dieses: »Wenn Marseille Geld hätte, würdet ihr Guardiola und seinen Ballbesitzfußball bekommen. Leider reicht es aber nur zu André Villas-Boas und seinen Taktiken.« Jetzt nicht mal mehr dafür.