Radstar Raymond Poulidor ist gestorben Der erste Zweite

Radprofi Raymond Poulidor gehörte zu den beliebtesten Sportlern in Frankreich - obwohl ihm der große Erfolg immer verwehrt blieb. Oder vielleicht genau deswegen. Jetzt ist der ewige Zweite im Alter von 83 Jahren gestorben.
Wieder nur Zweiter? Raymond Poulidor mit einem typischen Gesichtsausdruck

Wieder nur Zweiter? Raymond Poulidor mit einem typischen Gesichtsausdruck

Foto: Archiv AFP

Was bedeutet der zweite Platz im Sport? Handelt es sich dabei um den ersten Verlierer, oder ist es ein großer Erfolg? Soll man sich darüber freuen oder eher enttäuscht sein, dass noch jemand besser war? Wahrscheinlich hat niemand solche Fragen häufiger gestellt bekommen als Raymond Poulidor. Er war der ewige Zweite im Radsport, und gerade das machte ihn in Frankreich zum Liebling der Massen.

Manchmal wird der Verlierer mehr geliebt als der Gewinner - gesetzt den Fall, man sieht den zweiten Rang als Verliererplatz. In Frankreich wurde sogar das Wort vom Poulidor-Effekt erfunden - der tritt dann ein, wenn dem Verlierer mehr Sympathien zufliegen als dem Sieger. Der Sieger, der hieß Jacques Anquetil, der Verlierer Raymond Poulidor.

Man muss sich das vorstellen: Poulidor war in den Sechziger- und Siebzigerjahren achtmal am Ende der Tour de France in Paris auf dem Podium, zuletzt noch mit sagenhaften 40 Jahren in seinem letzten Rennjahr 1976. Aber er stand nie ganz oben. Dreimal wurde er Tour-Zweiter, fünfmal Tour-Dritter. Und er hat nicht einen einzigen Tag seiner Karriere im Gelben Trikot des Spitzenreiters verbracht. Bei Weltmeisterschaften strampelte er sich sechsmal unter die besten zehn. Sein größter Erfolg war 1974, na klar, die Vizeweltmeisterschaft.

Gegen Anquetil und Merckx hatte er keine Chance

Poulidor hatte das Pech, in einer Zeit Rad zu fahren, in der zwei der Allergrößten seine Konkurrenten waren: Landsmann Anquetil hatte am Ende fünf Tour-de-France-Erfolge auf dem Buckel. Und als sei das nicht genug, stieg Ende der Sechzigerjahre auch noch ein gewisser Eddie Merckx ins Geschehen ein. Der Belgier, der dann alles in Grund und Boden fuhr. Merckx nannten sie ehrfürchtig und ein bisschen eingeschüchtert "den Kannibalen", Poulidor wurde liebevoll "Poupou" genannt. Das sagt schon viel.

Poulidor war immer nah dran - am nächsten vielleicht im Tour-Jahr 1964, als Anquetil und er die Tour zu dominieren schienen. Anquetil war damals schon ein Superstar in Frankreich, viermal hatte er bei der Großen Schleife schon triumphiert, und vor allem machte er keinen Hehl aus seinem Können: Überheblich wirkte er oft, sperrig, nicht besonders beliebt im Kreis seiner Teamkollegen, keiner zum Anfassen - aber unantastbar durch seine Erfolge.

1964 allerdings war der 30-Jährige schon im Herbst seiner Karriere, die Zukunft schien Poulidor zu gehören, zwar nur zwei Jahre jünger, aber voller Energie. 1962 bei seiner ersten Tour war Poulidor schon aufs Podium gefahren, jetzt wollte er es wissen. Beide Franzosen quälten sich Seite an Seite den Puy de Dome im Zentralmassiv hinauf. Anquetil war eigentlich am Ende seiner Kräfte, Poulidor hätte nur früh angreifen müssen, dann wäre das Rennen entschieden gewesen. Aber als ausgefuchster Routinier ließ Anquetil seinen Rivalen nicht merken, in welch angeschlagener Verfassung er war. Poulidor attackierte erst kurz vor dem Ziel, zu kurz, das reichte für den Etappensieg, für mehr aber nicht. Anquetil rettete den Gesamtsieg nach Paris.

Mit Poupou konnte man sich identifizieren

Nun ist es nicht so, als wäre Poulidor immer hinterhergefahren. In seiner Laufbahn sammelte er insgesamt 195 Rennsiege, er gewann die Spanienrundfahrt, Mailand-San Remo oder Paris-Nizza. Auch bei sieben Etappen der Tour war er als Erster im Ziel. Aber zur Krönung einer solchen Laufbahn gehört als Franzose ein Sieg bei der Tour de France. Das haben Anquetil geschafft, Bernard Hinault, Louison Bobet oder Laurent Fignon. Poulidor taucht in keiner Siegerliste auf.

In Frankreich haben sie ihn geliebt, Anquetil war ihnen zu kühl, zu dickschädelig, mit Poupou dagegen konnten sich viele identifizieren. Noch ein Versuch, noch ein Anlauf, noch eine Tour - und wieder wurde es nichts mit dem großen Sieg. So ist das manchmal im Leben, jeder kennt das. Die Franzosen litten mit, die Franzosen fühlten mit.

Mit 83 Jahren ist Raymond Poulidor am Mittwoch gestorben. Die Radfahrtradition in der Familie lebt weiter. Sein Schwiegersohn ist der frühere niederländische Radprofi Adrie van der Poel, sein Enkel Mathieu van der Poel gehört zu den größten Radsporthoffnungen von Oranje. Beide haben längst nicht so viele Meriten wie Poulidor - und dennoch hat zumindest sein Schwiegersohn ihm etwas voraus: Er trug bereits das Gelbe Trikot bei der Tour. Während Poulidor stattdessen "das Gelbe Trikot für immer in den Herzen der Franzosen" trägt, wie Staatspräsident Emmanuel Macron am Mittwoch mitteilen ließ.

"Vielleicht hat mir der letzte Ehrgeiz gefehlt, auch wenn ich bestimmt immer alles gegeben habe", sagte Poulidor einmal: "Aber es hat mir auch gefallen, dass mich alle mochten." Möglicherweise ist das ja auch der viel größere Erfolg.

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