Southampton-Trainer Hasenhüttl "Wer ein 0:9 überlebt, verliert sämtliche Ängste"

Southamptons Ralph Hasenhüttl: "Mir war klar, dass ich diese Chance ergreifen würde"
Foto: Adrian Dennis/ AFPRalph Hasenhüttl, 52, grauer Trainingsanzug, sitzt in seinem Büro am Trainingsgelände des FC Southampton. Seit etwas mehr als einem Jahr spielt sich sein Leben vor allem hier ab, in der Abgeschiedenheit des Staplewood Campus.
Der Trainer kommt frühmorgens und bleibt bis zum späten Abend. Gleich werde er den Klubangestellten Weihnachtsgeschenke überreichen, sagt er. Seine Mannschaft kämpft im zweiten Jahr hintereinander gegen den Abstieg, am Boxing Day, dem traditionellen Premier-League-Spieltag am 26. Dezember, trifft Southampton auf den FC Chelsea (16 Uhr; TV: In der Konferenz bei Sky).
SPIEGEL: Herr Hasenhüttl, bereuen Sie Ihren Wechsel nach Southampton?
Hasenhüttl: Überhaupt nicht. Ich wusste, worauf ich mich einlasse.
SPIEGEL: Sie haben den Meisterschaftskampf in der Bundesliga gegen den Abstiegskampf in der Premier League eingetauscht. In dieser Saison gelangten Ihnen bisher nur fünf Ligasiege.
Hasenhüttl: Natürlich ist es schöner, wenn man öfter gewinnt. Aber noch mehr Spaß macht es, in der wahrscheinlich stärksten Liga der Welt arbeiten zu dürfen und an der Entwicklung eines Klubs beteiligt zu sein. Es ist eine Auszeichnung, in der Premier League eine Chance zu bekommen. Mir war klar, dass ich diese ergreifen würde, wenn sie kommt.
SPIEGEL: Was macht die Liga so interessant?
Hasenhüttl: Der Fußball hat in England einen sehr hohen Stellenwert - und ist ein Schmelztiegel verschiedener Fußballtraditionen. Es gibt hier viele verschiedene Trainertypen und Herangehensweisen. Wenn du gegen Manchester City mit Pep Guardiola spielst, hast du 20 Prozent Ballbesitz. Gegen Jürgen Klopps Liverpool ist klar: Wenn du den Ball verlierst, geht die Post ab. Andere Teams stellen sich gegen dich nur hinten rein. Jeder Gegner spielt anders - aber immer auf höchstem Niveau.
SPIEGEL: In Deutschland war das nicht so?
Hasenhüttl: Viele Trainer richteten ihr Augenmerk erstmal darauf, gegen den Ball gut organisiert zu sein. Speziell mit kleineren Vereinen kann man damit selbst gegen größere Mannschaften punkten. So haben wir es in Ingolstadt ja auch gemacht. Aber so ausgeglichen wie in diesem Jahr war die Bundesliga zuletzt selten.

Ralph Hasenhüttl, Jahrgang 1967, ist der erste österreichische Cheftrainer in der Geschichte der Premier League. Als er im Dezember 2018 beim FC Southampton anfing, stand der Klub mit neun Punkten aus 15 Spielen auf dem vorletzten Platz; Hasenhüttl schaffte mit dem Team noch den Klassenerhalt. Seine Trainerkarriere begann er in Unterhaching, später führte er Aalen aus der Dritten in die Zweite Liga und Ingolstadt in die Bundesliga. Mit RB Leipzig wurde er 2017 Vizemeister.
SPIEGEL: Welche Trainer in England beeindrucken Sie am meisten?
Hasenhüttl: Guardiola und Klopp setzen die Benchmark, das ist so.
SPIEGEL: Klopp ist seit über vier Jahren in Liverpool, aber erst in den vergangenen beiden Jahren gelang der Sprung von einer sehr guten zu einer Weltklassemannschaft. Warum?
Hasenhüttl: Jürgen hat Zeit gebraucht hat, um das Team zu verändern. Zeit - und das notwendige Geld. Offensichtlich wusste er genau, wo die Kaderschwachstellen waren, und er hat sie gezielt behoben.
SPIEGEL: Wie ist es, gegen Liverpool zu spielen?
Hasenhüttl: Oft hat man das Gefühl, dass sie auch verwundbar sind. Aber am Ende gewinnen sie trotzdem, weil sie gerade gegen Spielende enorm zulegen können. Und die drei da vorne (Liverpools Stürmer Sadio Mané, Roberto Firmino und Mohamed Salah; d. Red.) sind unvergleichlich.
SPIEGEL: Sie sind seit rund einem Jahr in Southampton. Was war seither Ihr bester Moment?
Hasenhüttl: Ich erinnere mich gut an den ersten Sieg, ein 3:2 gegen Arsenal. Der war ganz wichtig, weil wir gemerkt haben, dass wir auch gegen eine Mannschaft aus den Top Sechs gewinnen können. Ab diesem Moment hat die Mannschaft angefangen, wieder an sich zu glauben. Aber noch wichtiger, und das klingt jetzt sicher etwas komisch, war unsere Reaktion auf das Spiel gegen Leicester.
SPIEGEL: Southamptons 0:9 gegen Leicester City am 10. Spieltag war die höchste Niederlage in der Geschichte der Premier League.
Hasenhüttl: Da waren wir bodenlos. Aber dass, und wie wir danach wieder auf unseren Weg gefunden haben, war eine der wichtigsten Erfahrungen meiner Karriere.
SPIEGEL: Was sagt man einer Mannschaft, die gerade 0:9 verloren hat?
Hasenhüttl: Die Wahrheit. Dass wir von nun an mit diesem Makel leben müssen. Das 0:9 werden wir nicht mehr los, daran wird man sich wahrscheinlich immer erinnern. Und dass es darauf ankommen wird, wie wir reagieren. Es ging darum, der Mannschaft den Glauben an sich zurückzugeben. Wir mussten anschließend zweimal gegen Manchester City spielen, eine der besten Mannschaften der Welt. Das hätte böse ausgehen können. Wir haben zwar zweimal verloren, aber beim zweiten Spiel sogar beinahe etwas geholt (1:3 im Ligapokal, 1:2 in der Premier League; Anm. d. Red.). Kurz darauf, nach der Länderspielpause, kamen wir mit sieben Punkten aus drei Spielen zurück.

Hasenhüttl: "Wir alle haben versagt"
Foto: Mark Fletcher/ MI News/ NurPhoto via Getty ImagesSPIEGEL: Haben Sie nach dem 0:9 an sich selbst gezweifelt?
Hasenhüttl: Wer würde das nicht tun? Wir alle haben versagt. Aber als Trainer musst du der Erste sein, der die Richtung findet. Es war beeindruckend, wie der Verein danach zusammenstand. Wir haben den Glauben behalten, dass wir in dieser Saison den Klassenerhalt schaffen.
SPIEGEL: Die Erwartungen waren andere. Im "Kicker" sprachen Sie vor der Saison von einem einstelligen Tabellenplatz. Haben Sie Angst um Ihren Job?
Hasenhüttl: Wer ein 0:9 überlebt, verliert sämtliche Ängste. Spaß beiseite: Der bisherige Rückhalt hat mir gezeigt, dass der Klub unsere Situation realistisch einschätzt.
SPIEGEL: In der Vergangenheit haben Sie mit Außenseiterteams stärkere Gegner hinter sich gelassen, weil Sie taktisch besser waren. Warum gelingt das nicht in England?
Hasenhüttl: Weil es ein Unterschied ist, in der zweiten oder dritten Liga in Deutschland zu arbeiten oder in der Premier League. In Aalen und Ingolstadt haben wir im ersten Jahr die Klasse gehalten, danach konnten wir die Mannschaften mit relativ wenig Geld verändern. In der Premier League brauchst du verhältnismäßig viel mehr Mittel und selbst dann gibt es keine Garantien.
SPIEGEL: In Southampton sind Sie nun immerhin bereits knapp über ein Jahr.
Hasenhüttl: Ich würde mir auch wünschen, dass es schneller geht. Doch nach guten Phasen gab es immer wieder Rückschläge. Das Problem in der Premier League ist, dass die Qualität der gegnerischen Spieler so groß ist. Sie brauchen teils nur ein, zwei Chancen, um dir eiskalt die Schwachstellen aufzuzeigen. Selbst mit guter Organisation und perfektem Ablauf kannst du in dieser Liga Spiele verlieren. Deshalb müssen wir Geduld haben.
SPIEGEL: Die Entwicklung der Mannschaft ist das eine. Wie ist das mit Ihrer eigenen? Wo möchte der Trainer Ralph Hasenhüttl hin?
Hasenhüttl: Ich möchte ein System spielen lassen, das nicht auf eine Spielphase spezialisiert ist. Denken Sie an Liverpool. Jürgen hat irgendwann gemerkt, dass Ballbesitzphasen essenziell wichtig für sein Spiel sind. Im modernen Fußball kommst du mit nur einem Plan nicht weit. Alle großen Mannschaften können alles.
SPIEGEL: Haben Sie noch ein Beispiel?

" Was muss ein Bayern-Trainer gewinnen, ehe er die Anerkennung kriegt, die er verdient?"
Foto: Matt Watson/ Southampton FC via Getty ImagesHasenhüttl: Nehmen Sie Manchester City. Es herrscht oft der Irrglaube, das Team würde vor allem mit dem Ball überzeugen. Dabei ist City überragend organisiert im Spiel gegen den Ball. Wie gut ihr Gegenpressing ist, wie schnell sie also Bälle wieder zurückgewinnen, und wie hoch ihre Restverteidigung ist, das fällt oft gar nicht auf.
SPIEGEL: Anfang 2018 galten Sie als Kandidat für den Trainerposten beim FC Bayern, sagten aber, Sie seien dafür noch nicht bereit. So viel Zurückhaltung ist ungewöhnlich in Ihrem Geschäft.
Hasenhüttl: Ich stehe absolut zu dem, was ich damals gesagt habe. Der FC Bayern ist so etwas wie der Ritterschlag für jeden Trainer in Deutschland. Aber das ergibt nur dann Sinn, wenn es wahrscheinlich die letzte Stufe der eigenen Entwicklung ist. Denn danach kann eigentlich nicht mehr viel Größeres kommen. Davon abgesehen ist die Frage, ob der FC Bayern für einen Trainer wirklich ein erstrebenswertes Ziel ist.
SPIEGEL: Das müssen Sie erklären.
Hasenhüttl: Was muss ein Bayern-Trainer gewinnen, ehe er die Anerkennung kriegt, die er verdient hat? Das Double? Dass das nicht genügt, hat man gerade erst bei Niko Kovac erlebt. Die Champions League? Reicht das, damit die Leute sagen: "Der macht aber einen guten Job"? Und bekommt er die Zeit, Dinge zu entwickeln?
SPIEGEL: In Manchester erlebt Guardiola gerade etwas Ähnliches. Trotz zwei Meisterschaften mit 100 und 98 Punkten halten ihm Kritiker vor, er sei in der Champions League gescheitert.
Hasenhüttl: Das ist bei den absoluten Topteams nunmal so. Erfolge sind selbstverständlich, Misserfolge eine Katastrophe. Jeder Trainer muss für sich entscheiden, ob er damit leben kann oder einen anderen Weg gehen möchte.
SPIEGEL: Geht es im Profifußball etwa nicht um Siege und Trophäen?
Hasenhüttl: Um Siege immer, um Trophäen nicht unbedingt. Für mich persönlich war der letztjährige Klassenverbleib mit Southampton gefühlt ein Titel. Ein ehrgeiziger Trainer kann sich auch andere Ziele setzen und an vermeintlich kleinen Entwicklungsschritten großen Gefallen finden.
SPIEGEL: Wenn Sie zurückdenken an den Tag Ihrer Unterschrift - welchen Rat würden Sie sich selbst geben?
Hasenhüttl: Auf dich wartet die spannendste Zeit deiner bisherigen Trainerkarriere. Genieße es einfach.