Ronaldo-Comeback Auferstehung des Sorgenkindes
Dortmund - Zu dick, phlegmatisch, lauffaul. So lautete die einhellige Meinung der Beobachter über die bisherigen WM-Auftritte Ronaldos. Selbst Griechenlands Nationaltrainer Otto Rehhagel hatte vor dem Spiel kein gutes Haar an dem Torjäger gelassen. "Wenn man in die High Society einbricht und mit den Bräuten rummacht, kann es schon sein, dass man ein bisschen zu wenig trainiert", sagte der deutsche Erfolgstrainer süffisant über die bis dato gezeigten Leistungen des brasilianischen Stürmers.
Nicht nur die Szene in der 81. Minute strafte die Kritiker Lügen: Ronaldo erhielt nach einem doppelten Doppelpass mit Innenverteidiger Juan den Ball an der Strafraumlinie mit dem Rücken zum Tor, drehte sich ansatzlos und schoss überlegt ins rechte Eck des japanischen Tores.
Brasiliens Trainer Carlos Alberto Parreira zeigte sich nach der Partie zufrieden mit dem Sorgenkind seiner Mannschaft: "Ich habe immer gesagt, dass Ronaldo ein besonderer Spieler ist", erklärte der Mann, der in seiner Heimat nur "der Professor" genannt wird. "Er hat das Turnier nicht in der besten körperlichen Verfassung begonnen, aber er hat bewiesen, was für ein wichtiger Spieler er für uns ist."
Zwar sind die körperlichen Defizite des Torjägers nach wie vor augenfällig, noch fehlen ihm Explosivität und Geschmeidigkeit, dennoch sorgte Ronaldo mit einer guten Leistung dafür, dass Spott und Häme gegen ihn ein Ende haben werden. Zudem stellte er mit seinen beiden Treffern den WM-Torrekord Gerd Müllers ein. Mit insgesamt 14 Treffern bei Weltmeisterschaften liegt er nun gleichauf mit dem deutschen Stürmer. "Ich bin sehr glücklich, weil ich mich wieder einen Schritt weiterentwickelt habe", sagte Ronaldo.
Im Wesentlichen darf er sich jedoch bei seinen Offensivkollegen Kaká, Robinho und Ronaldinho bedanken, die ihn immer wieder mit glänzenden Zuspielen in Szene gesetzt haben. Vor allem der Instinktfußballer Ronaldinho hebelte die japanische Abwehr immer wieder mit scharfen Pässen aus, häufig spielte er diese Bälle sogar "blind", also ohne Blickkontakt zu seinen Kollegen.
Eine Augenweide war - wie Ronaldinho - auch der zierliche Robinho. Strotzend vor Selbstvertrauen ging der 22-Jährige immer wieder auf die japanischen Verteidiger zu; dass er sich bei seinen höchst unkonventionellen Dribblings gelegentlich heillos verzettelte, minderte die Bewunderung der Zuschauer für den Spielwitz des Angreifers nicht im Geringsten.
Der japanische Torhüter Yoshikatsu Kawaguchi hatte jedoch einen guten Tag erwischt und machte zunächst alle Chancen zunichte. Doch just als die Brasilianer gänzlich die Spielkontrolle übernommen hatten und munter zu kombinieren begannen, schlugen die Japaner überraschend zu. Nach einem Pass von Alex, dem gebürtigen Brasilianer im Trikot der Asiaten, traf Keiji Tamada in der 33. Minute mit einem trockenen Linksschuss. Die blitzartig ausgeführte Aktion stellte den Spielverlauf auf den Kopf.
Die Seleção brauchte einige Minuten, um sich von dem ersten WM-Gegentor seit dem Jahr 2002 zu erholen, doch in der Nachspielzeit der ersten Halbzeit gelang ihr der Ausgleich. Cicinho leitete eine Flanke von Gilberto klug in den Fünfmeterraum weiter, wo Ronaldo sich von seinem Gegenspieler weggestohlen hatte und unbedrängt einköpfen konnte.
Jetzt wurden die wahren Kräfteverhältnisse sichtbar, obwohl Brasiliens Coach seine Anfangsformation auf fünf Positionen verändert hatte. Parreira gönnte den Routiniers Cafu, Roberto Carlos, Emerson und Ze Roberto sowie Adriano mit Blick auf das Achtelfinale eine Pause. Dennoch dominierten brillante brasilianische Individualisten das redlich bemühte japanische Kollektiv. In der zweiten Hälfte wurden die Südamerikaner von Beginn an ihrer Favoritenrolle gerecht. Der vorher so starke japanische Torhüter Kawaguchi flog in der 53. Minute an Juninhos hartem Schuss aus 20 Metern vorbei, Brasilien ging 2:1 in Führung.
Von nun an beherrschten die Brasilianer das Spiel nach Belieben. Ronaldinho bediente Gilberto in der 59. Minute mit einem Traumpass über 30 Meter direkt in den Lauf, den der der Bundesliga-Legionär von Hertha BSC Berlin mit einem trockenen Flachschuss im japanischen Tor versenkte. "Das war nicht das, was wir uns vorgestellt haben", klagte Japans brasilianischer Coach Zico, "aber so ist Fußball." In der 81. Minute war es abermals Ronaldo, der nach einer sehenswerten Kombination die Niederlage der chancenlosen Japaner besiegelte.
Hinten souverän und kompromisslos, in Mittelfeld und Angriff kreativ und stets überraschend: Japan war offenbar der ideale Aufbaugegner für die Brasilianer, die nach ihren ersten beiden, eher uninspiriert gewonnenen Vorrundenpartien gegen Kroatien (1:0) und Australien (2:0) nun endgültig im Turnier angekommen sind.
Zwar lieferte Parreiras Truppe noch nicht die sehnlichst erwartete Gala, doch man hatte stets das Gefühl, dass die Mannschaft das Spieltempo beliebig variieren und Gegner mit Ausnahme weniger Minuten absolut beherrschen konnte. Das Dribbelwunder Robinho wurde vor dem Spiel zu den bis dahin eher mäßigen Leistungen der Mannschaft befragt. Seine Antwort war kurz, darf von den übrigen Teams aber durchaus als Drohung verstanden werden: "Glauben Sie mir", so Robinho, "wir werden uns in den nächsten Spielen steigern." Als nächstes Team darf sich Ghana vom Können der Brasilianer überzeugen. Im Achtelfinale am Dienstag sind die Afrikaner Gegner von Ronaldo und Co.