
Früherer Nachwuchsstar Evljuskin: So brutal kann Fußball sein
Fußball-Buch "Eigentlich wäre ich jetzt Weltmeister" Özils Kapitän
Am 13. Juli 2014 saß Sergej Evljuskin in einer Cocktailbar in Kassel und sah im Fernsehen, wie die Fußball-Nationalmannschaft den Weltmeistertitel gewann. So wie Millionen andere Deutsche. Und wie so vielen lief ihm ein Schauer über den Rücken, er wünschte sich, in diesem Augenblick auch auf dem Rasen des Maracanã-Stadions zu feiern und den goldenen Pokal in den Himmel zu recken.
Evljuskin spürte Freude. Und Bitternis. Denn fast wäre es ja so gekommen.
Evljuskin spielte über Jahre in den Juniorenauswahlen des Deutschen Fußball-Bunds, er galt als eines der größten Talente im Mittelfeld. Er ist Jahrgang 1988, genau wie Jérôme Boateng, Mesut Özil und Benedikt Höwedes, die an diesem Abend in Rio de Janeiro jubelten, weinten und in die Mikrofone schrien.
Der große Traum - und wie schnell er platzen kann
Mit ihnen hatte er in diversen U-Nationalteams gekickt. Er war ihr Kapitän. Sie machten später Karriere. Evljuskin lief nicht einmal in der Bundesliga auf.
Seine Geschichte erzählt vom Traum, ein großer Fußballer zu werden - und davon, wie schnell er platzen kann. Sein Buch "Eigentlich wäre ich jetzt Weltmeister", das er mit dem Journalisten Christof Dörr geschrieben hat, richtet den Blick auf die harte Realität des Profigeschäfts. Es gibt wohl kaum einen Spieler in Deutschland, bei dem die Erfolge als Jugendlicher und Erwachsener einen solch krassen Gegensatz bilden. Heute, mit 28, spielt er in der vierten Liga, bei Hessen Kassel. Viel weiter kam er nicht, viel weiter wird er es wohl nicht mehr bringen.
Schon mit 18 unterschrieb Evljuskin beim VfL Wolfsburg, bis dahin war sein Leben märchenhaft verlaufen. Als Zweijähriger kommt er als Kind einer Aussiedlerfamilie von Kirgisien nach Braunschweig, mit sechs entdeckt ihn ein Trainer beim Bolzen im Park. Er entwickelt sich prächtig, ragt heraus aus seiner Generation und wird zum zentralen Spieler. Technik, Torgefährlichkeit, Kopfballstärke, Spielverständnis, keiner auf dem Platz vereint so viel Talent. Allerdings ist sein Naturell zurückhaltend, er denkt stets ans Team und freut sich, wenn andere glänzen.
"Ich war unbesiegbar"
Der DFB zeichnet ihn zweimal als Besten seines Jahrgangs aus. 2006 erhält er in Wolfsburg einen Vierjahresvertrag. "Ich hätte damals Bäume ausreißen können, so großartig habe ich mich gefühlt", sagt er. "Ich war unbesiegbar und endlich da angekommen, wo ich so viele Jahre lang hinwollte. Dachte ich zumindest."
Doch bei den Profis haben sie keine Verwendung für ihn, die Mannschaft kämpft gegen den Abstieg aus der Bundesliga, da bleibt kein Platz für einen Jungen, der einen feinen Pass spielen kann, dem es aber an Härte fehlt. Evljuskin wird in die zweite VfL-Mannschaft geschickt, auch in der U19 des DFB verliert er seinen Stammplatz neben Boateng, Özil und Höwedes.
Die Stärke dieses lehrreichen und spannenden Buchs liegt darin, dass es den Lauf der Dinge nicht nur aus Evljuskins Sicht nachzeichnet. Die Perspektive für den Leser ist breiter. Es geht um mehr als um Traum und böses Erwachen. Denn nüchtern betrachtet schaffen es die wenigsten Talente hoch bis zum Profi.
Der Übergang vom Jugend- zum Erwachsenenfußball gleicht einem Trichter, und die Quote jener, die durchkommen, liegt laut einer Studie der Technischen Universität Kaiserslautern nur bei zehn Prozent. Manchmal sind es Kleinigkeiten oder Zufälle, die über Lebenswege entscheiden.
Obwohl er nie schwer verletzt war, obwohl er nicht über die Stränge schlug, sondern diszipliniert trainierte und lebte, blieb Evljuskin in dem harten Konkurrenzkampf auf der Strecke. Ihm sind viele Umstände zum Verhängnis geworden, aber er bäumte sich auch nicht dagegen auf. Er verließ sich zu sehr darauf, dass sich die Dinge irgendwie zu seinen Gunsten entwickeln würden.
Wie eine Parabel auf den Fußball
Klaus Augenthaler, sein erster Trainer bei den Profis in Wolfsburg, sagt: "Sergej ist schon sehr früh mit 1000 Ehrungen und Medaillen überhäuft worden. Er musste immer das Gefühl haben, etwas Außergewöhnliches zu sein. Aber mit dem Schritt in den Profibereich spielt das alles keine Rolle mehr." Peter Hyballa, Evljuskins Coach in der VfL-Jugend, urteilt hart über seinen früheren Lieblingsspieler. Hyballa meint, "dass er sich eine Zeit lang in diesem Gescheitert-Modus auch gesuhlt hat. Und dabei hat er vergessen zu kämpfen."
Evljuskins Geschichte liest sich wie eine Parabel auf den Fußball, der eine traumhafte Welt sein kann, aber ebenso eine brutale. Tatsächlich könnte Evljuskin Weltmeister sein und seine Geschichte, der Aufstieg vom Aussiedlerjungen zum Fußballstar, kitschig schön klingen. Eigentlich. Boateng, Özil und Höwedes haben sich durchgesetzt, ihr früherer Kapitän hat es nicht.
Autor Dörr hatte auch bei den drei WM-Helden von 2014 nachgefragt, ob sie für das Buchprojekt zu sprechen seien. Sie reagierten entweder gar nicht oder lehnten ab. Evljuskin spielt für sie keine Rolle mehr.

Sergej Evljuskin, Christof Dörr:
Eigentlich wäre ich jetzt Weltmeister
Warum der Kapitän von Boateng, Özil und Höwedes heute in der 4. Liga kickt.
Schwarzkopf & Schwarzkopf; 280 Seiten; 14,99 Euro.
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