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Spaniens EM-Titel Europa sieht rot

Vor dem EM-Finale wurde Spanien noch wegen seines langweiligen Tiki-Taka kritisiert - nach dem Endspiel spricht Fußball-Europa nur noch von der Gala gegen Italien. Der Triumph von Kiew war eine Demonstration der Überlegenheit. Und eine Genugtuung für Trainer Vicente del Bosque.

Es gibt gewisse Vorgänge, die sind bei der Uefa nicht vorgesehen. Jedenfalls stand gewiss nicht im minutiös getimten Ablaufplan des EM-Endspiels, dass um kurz vor Mitternacht im Kiewer Olympiastadion plötzlich ganz viele Kinder auf dem Rasen herumtollen würden. Knirpse in roten Trikots, die aus dem Schauplatz des Finales einen fröhlichen Kinderspielplatz machten.

Dabei hatte Spaniens Keeper und Kapitän Iker Casillas nach dem furiosen 4:0-Finalsieg des alten und neuen Europameisters gegen Italien noch gar nicht die EM-Trophäe überreicht bekommen. Es bedurfte dann einer Anweisung zweier Anzugträger mit Uefa-Emblem, um zum Ablaufplan zurückzukehren. Der zum EM-Torschützenkönig aufgestiegene Edeljoker Fernando Torres, Verteidiger Alvaro Arbeloa und Co. fischten ihren Nachwuchs aus dem Tornetz und trugen ihn vom Rasen. Jenes Grün, auf dem die Spanier zuvor den höchsten Finalsieg der EM-Geschichte gefeiert hatten.

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Finalsieg über Italien: Spanien zaubert sich zum Titel

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"Es ist eine große Ära, ich bin sehr, sehr stolz", sagte Spaniens Trainer Vicente del Bosque nach dem dritten Erfolg der "Furia Roja", der "Roten Furie", bei einem großen Turnier in Folge. Erst der EM-Titel 2008 in Österreich, dann der WM-Triumph 2010 in Südafrika, und nun erneut Europameister. Der 61-Jährige sprach von einem historischen Erfolg und sagte: "Der Erfolg von Wien gegen Deutschland hat uns damals den Weg gewiesen."

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Grafische Analyse: So besiegte Spanien die Italiener

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Dass der Erfolgshunger der titelverwöhnten spanischen Spieler noch lange nicht gestillt ist, wurde mit der Gala von Kiew offensichtlich. Mit Präzision und Perfektion spielten die Spanier die beiden ersten Treffer von David Silva und Jordi Alba heraus. "Wir hatten einen großartigen Tag", beschrieb der als "Man of the match" ausgezeichnete Andrés Iniesta die überragende Leistung seines Teams.

Gemeinsam mit seinen nicht minder fabelhaften Mittelfeldpartnern vom FC Barcelona, Xavi und Cesc Fàbregas, bildete Iniesta Spaniens Herzstück bei diesem Turnier und die Basis des Erfolgs. "Es ist ein unvergleichlicher Abend", sagte Xavi, der mit einer Flasche Bier und einer katalonischen Flagge später durch die Katakomben des Stadions marschierte.

Triumph eine Bestätigung für del Bosques stürmerloses System

Niemand der Stars wollte sich in diesem Moment des Glücks aber der Debatte hingeben, ob nun sogar ein Vierfacherfolg bei der WM 2014 in Brasilien möglich ist. "Es ist an der Zeit, das alles jetzt zu genießen", sagte Xabi Alsonso: "Wir sollten nicht an die Zukunft denken, weil es noch dauern wird, das zu realisieren." Sein Trainer del Bosque hing in Gedanken sogar noch in der jüngeren Vergangenheit, als er für sein quasi stürmerloses 4-6-0-System kritisiert wurde. "Das Wichtigste ist eine gute Balance und Tore zu erzielen. Das haben wir getan", sagte der Coach, der durch dieses unglaubliche Finalspiel bestätigt wurde.

Bei aller Euphorie muss jedoch erwähnt werden, dass die am Ende müden Italiener in ihrer besten Phase nach der Pause dezimiert wurden, als Thiago Motta wenige Minuten nach seiner Einwechslung mit einer Muskelverletzung wieder vom Feld musste und nicht mehr wiederkam. Wegen drei zuvor getätigter Wechsel musste der Deutschland-Bezwinger eine halbe Stunde in Unterzahl spielen.

Italiens Trainer Cesare Prandelli trug die Demütigung letztlich mit Fassung. "Sie haben uns komplett dominiert. Unser Tank war leer, meine Spieler waren müde." Neben der Motta-Verletzung, die Prandelli als Beleg für die Anstrengungen der vergangenen Woche wertete, beklagte er aber eben auch den fehlenden Ruhetag: "Wir haben im Halbfinale zu viel Energie verloren." Der 54-Jährige verspürt trotz der Niederlage große Lust, die Nationalmannschaft weiter nach vorn zu bringen. "Dieses Projekt muss weitergehen, dieses Team muss sich noch weiterentwickeln."

Auch seine Spieler erkannten die Überlegenheit des Gegners neidlos an. "Die Spanier waren klar besser. Wenn sie 100 Prozent abrufen, hat man wenig Chancen, dann gewinnt keiner gegen sie", sagte der deutschstämmige Mittelfeldspieler Riccardo Montolivo. Und Torwart Gianluigi Buffon gebrauchte den Begriff der "Squadra forte", "starkes Team", um den Titelträger wertzuschätzen.

Torjäger Mario Balotelli verspürte hingegen keinerlei Drang, seine Gefühle mitzuteilen. Das brauchte er auch nicht, schließlich hatte der 21-Jährige nach dem Schlusspfiff hemmungslos geweint. Im Stadion war das noch, als die jubelnden Helden gerade dabei gewesen waren, ihren Nachwuchs einzufangen.

Spanien - Italien 4:0 (2:0)
1:0 David Silva (14.)
2:0 Alba (41.)
3:0 Fernando Torres (84.)
4:0 Mata (88.)
Spanien: Casillas - Arbeloa, Piqué, Sergio Ramos, Alba - Xavi, Busquets, Xabi Alonso - Fàbregas (75. Fernando Torres) - David Silva (59. Pedro), Iniesta (87. Mata)
Italien: Buffon - Abate, Barzagli, Bonucci, Chiellini (21. Balzaretti) - Pirlo - Marchisio, Montolivo (57. T. Motta), De Rossi - Balotelli, Cassano (46. Di Natale)
Schiedsrichter:
Proenca (Portugal)
Zuschauer: 64.000
Gelbe Karten: Piqué - Barzagli
Besondere Vorkommnisse: Thiago Motta musste in der 61. Minute verletzt vom Platz. Italien spielte mit zehn Mann weiter, da das Auswechselkontingent zu diesem Zeitpunkt bereits erschöpft war.

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