Neuer türkischer Nationaltrainer Kuntz »Ich will der deutscheste Türke oder türkischste Deutsche werden«

Stefan Kuntz ist der neue Nationaltrainer der Türkei. Auf ihn kommt kein leichter Job zu: Die WM-Qualifikation ist in Gefahr. Aber als U21-Coach hat er beim DFB bewiesen, dass er aus wenig viel machen kann.
Stefan Kuntz bei der Vorstellung durch den Verband

Stefan Kuntz bei der Vorstellung durch den Verband

Foto: Elif Ozturk Ozgoncu / Anadolu Agency / Getty Images

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Als Stefan Kuntz 1996 zur Europameisterschaft flog, hatte er ein besonderes Geschenk für seine Teamkameraden in der deutschen Nationalelf im Gepäck. Damals war Kuntz noch Profi von Besiktas Istanbul. »Ich hatte für die gesamten Jungs ›Allahs Auge‹ mitgebracht, Glücksbringer für alle«, hatte Kuntz im Juni dem SPIEGEL erzählt, als er sich an den deutschen EM-Triumph vor 25 Jahren erinnerte. Sie haben geholfen.

Möglicherweise ist er heute wieder mit Allahs Auge in der Tasche nach Istanbul gereist. Ein Vierteljahrhundert nach Kuntz' Gastspiel bei Besiktas kehrt er als künftiger Nationaltrainer in die Türkei zurück. Der 58 Jahre alte bisherige U21-Coach des DFB hat am Montag seinen Vertrag beim türkischen Verband unterschrieben und damit erstmals die Herausforderung eines A-Nationaltrainerjobs angenommen. Es wird so oder so ein Abenteuer für ihn.

Zweimal hat Kuntz den DFB-Nachwuchs zum Europameistertitel geführt, einmal wurde er Vizeeuropameister. Die Fähigkeit, junge Spieler innerhalb kurzer Zeit in ihre beste Form zu bringen, hat er damit wiederholt nachgewiesen. Dabei hat ihm die Gabe geholfen, zügig aus einer Ansammlung junger, talentierter Fußballer eine Gruppe zu bilden. Er hat die Qualität, bei jungen Leuten die richtige Ansprache zu finden. Was vom U21-Europameisterteam dieses Sommers immer wieder zu hören war: Hier war eine echte Mannschaft am Werk. Die auch Europameister werden konnte, weil der Teamspirit manches sportliche Defizit zu kompensieren verstand.

Gewinnende Art der Kommunikation

Es ist etwas, was Kuntz aus der Erfahrung von 1996 mitgenommen hat. Als der berühmte Slogan von Trainer Berti Vogts geboren wurde: Der Star ist die Mannschaft. Gerade im Umgang mit Jüngeren kommt ihm seine kommunikative Ader, die er zuletzt als ARD-Experte bei der EM auslebte, zugute. Bei der U21 forderte er immer wieder, seine Spieler sollten »mit Löwenherzen« antreten. Das sind Bilder, die in der Türkei gut ankommen dürften.

Inwiefern er diese kommunikative Eignung auch in einem anderen Land einbringen kann, wird allerdings auch davon abhängen, welches Team Kuntz um sich bildet. Bei Besiktas hat er damals ein wenig Türkisch gelernt, aber um es dort weit zu bringen, war das eine Jahr als Profi zu kurz.

Stefan Kuntz 1995 als Profi von Besiktas Istanbul

Stefan Kuntz 1995 als Profi von Besiktas Istanbul

Foto: imago sportfotodienst

Die Möglichkeit, den Job in der Türkei anzunehmen, hatte sich kurzfristig ergeben. Vorgänger Şenol Güneş war nach dem 1:6 in der WM-Qualifikation gegen die Niederlande entlassen worden. Zuvor bereits hatte die türkische Auswahl bei der EM enttäuschend abgeschnitten und musste schon nach der Gruppenphase punktlos und mit einer trostlosen Torbilanz von 1:8 nach Hause abreisen.

DFB verliert profilierten Ausbilder

Aber spontane Karriereentscheidungen hat Kuntz in der Vergangenheit schon mehrfach getroffen. Auch als er 2016 bei der U21-Auswahl zusagte, war diese Idee nach einem Gespräch mit dem damaligen DFB-Sportdirektor Hansi Flick kurzfristig bei Kuntz gereift. »Am nächsten Tag hatte ich beim Laufen drüber nachgedacht und danach gleich den Hansi angerufen«, erzählte er im Juni. Und auch diesmal stand sein Entschluss früh fest. »Es waren gute Gespräche in der Türkei«, sagte er dem SPIEGEL in der Vorwoche, man habe »sich danach von beiden Seiten ein paar Tage Zeit gelassen«, am Wochenende fiel dann die endgültige Entscheidung. Der DFB hatte ihm zuvor bereits die Freigabe erteilt, der Verband verliert mit ihm einen profilierten Aus- und Weiterbilder, die Nachfolge ist derzeit noch völlig offen.

Eine Schlüsselrolle bei der Verpflichtung von Kuntz spielte der frühere Bundesligaprofi Hamit Altıntop, mittlerweile Sportvorstand im türkischen Verband. Der gebürtige Gelsenkirchener ist zu einem der einflussreichsten Männer im Verband aufgestiegen, sein Draht zu Kuntz ist kurz. Dass sein Zwillingsbruder Halil wie Kuntz eine Kaiserslauterer Vergangenheit hat, hat dabei sicher nicht geschadet.

Bei der offiziellen Vorstellung am Montag machte Kuntz schon mal Bonuspunkte beim türkischen Publikum: »Hier zu sein ist so, als würde ich nach Hause zurückkehren«, sagte der neue Trainer der Türkei voller »Stolz« bei seiner Vorstellung am Montag in Istanbul: »Als ich meiner Familie zum ersten Mal von dem Angebot erzählte, sagten sie zu mir: 'Können wir auch in die Türkei kommen?' Ich glaube, ich könnte kein größeres Kompliment machen.« Kuntz kündigte an: »Ich will der deutscheste Türke oder türkischste Deutsche werden.«

Der große Vorteil für den neuen Trainer ist: Er wird in der Türkei bei seiner neuen Mannschaft keinen personellen Scherbenhaufen vorfinden. Er muss nicht – wie einer seiner Vorgänger – seinen Deutschland-affinen Co-Trainer Tayfun Korkut in die Bundesrepublik schicken, um nachzuforschen, ob es fähige Spieler gibt, die der Türkei eventuell helfen könnten. Um dann mit Blumenstrauß bei den Eltern nachzufragen, ob ihr Sohn denn nicht Lust auf das Abenteuer Türkei hätte.

Abstieg bei der Nations League in die Gruppe C

Kuntz findet vielmehr die vermutlich international erfahrenste Nationalmannschaft der türkischen Fußballgeschichte vor. 14 der 26 Spieler, die für die September-Länderspiele nominiert worden sind, spielen im Ausland. Allesamt in der Premier League, Serie A, Primera División oder der Ligue 1. Nur Youngster Orkun Kökçü, der bei Feyenoord unter Vertrag steht, spielt nicht in einer der europäischen Topligen.

Dennoch stagnierte die sportliche Entwicklung der Mannschaft. Und das nicht erst seit der Europameisterschaft. In der Nations League stieg die Türkei in die C-Liga ab und hat es dort demnächst mit der Kategorie Luxemburg, Aserbaidschan, Kosovo zu tun.

Kuntz-Vorgänger Şenol Güneş entwickelte anfangs eine defensiv stabile Mannschaft, die in der EM-Qualifikation nur drei Tore kassierte. Doch zusehends verlor man diese Stabilität, und Güneş begann immer mehr zu rotieren, ohne eine Lösung zu finden. Erschwerend kam hinzu, dass mit Merih Demiral der emotionale Kopf der Mannschaft nach einem Kreuzbandriss erst lange fehlte, dann bei Juventus seinen Stammplatz verlor und ohne Spielpraxis für die Europameisterschaft nominiert wurde. Das gilt auch für Demiral-Vertreter Ozan Kabak, der beim FC Liverpool erst verletzt, dann außen vor war. In jedem Fall ist es schon einmal ein Plus für Kuntz, dass sich Demiral (zu Atalanta) und Kabak (zu Norwich) veränderten und nun wieder Spielpraxis sammeln.

Hoffnung auf den Talent-Arbeiter Kuntz

Die größte Aufgabe für Kuntz wird es aber sein, offensiv neue Akzente zu setzen. Hier könnten Spieler wie Halil Dervişoğlu (21, Galatasaray) helfen. Der Stürmer war unter Güneş zwar im Kader, spielte aber kaum eine Rolle. Hier kann Kuntz mit seinem Händchen, den richtigen Ton bei Talenten zu treffen, punkten.

Seine kommunikativen Qualitäten wird der Trainer auch einbringen müssen, die emotionale Distanz zwischen Fans und Nationalmannschaft zu verringern. Streitigkeiten und Skandale haben das Verhältnis zur »Milli Takım« in den vergangenen Jahren nachhaltig getrübt. Als Güneş eine junge Mannschaft aufbaute, die sich tatsächlich nur auf Fußball konzentrierte und dazu noch erfolgreich war, fand man in der Türkei zwar zeitweilig zur Nationalmannschaft zurück. Der Slogan »Bizim Çocuklar«, übersetzt »Unsere Jungs«, wurde entwickelt.

Doch das sportliche Versagen bei der EM und die Ignoranz des Verbandes, diese Fehlentwicklung frühzeitig zu erkennen, haben den Kredit wieder verspielen lassen. Die Nähe der Staatsführung um Präsident Recep Tayyip Erdoğan zum Fußball ist ebenfalls ein heikles Feld.

Stellt Kuntz die emotionale Bindung wieder her, hat er schon viel geschafft.

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