Analyse zur Müller-Rückkehr ins DFB-Team Vom Ausgemusterten zum Anführer

Der König ohne Ball: Thomas Müller
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Rund zwei Jahre war er außen vor, nun ist Thomas Müller wieder Teil der deutschen Fußballnationalmannschaft. Bundestrainer Joachim Löw hat den 31-Jährigen ins Aufgebot für die am 11. Juni beginnende Europameisterschaft berufen.
Was Müller betrifft, so geht Löw denselben Weg, den Hansi Flick beim FC Bayern einschlug, als er dort Cheftrainer wurde. Dessen wohl wichtigste Entscheidung war es, den unter Niko Kovač häufig auf der Ersatzbank sitzenden Müller wieder zum Mittelpunkt der Mannschaft zu machen. Die sechs Titel, die die Münchner danach gewannen, wären ohne diese Maßnahme kaum denkbar.
Entsprechend groß ist die Tragweite von Löws Entscheidung, Müller zurückzuholen. 2019 hatte der DFB noch einen Neubeginn ohne Müller, Mats Hummels und Jérôme Boateng ausgerufen, nun kehrt Müller nicht bloß zurück, es gilt als sicher, dass er das Team mit anführen wird. Müller wird zu einem Kapitän ohne Binde (die trägt Manuel Neuer), einem Organisator, man könnte fast behaupten, Löw habe sich in ihm einen spielenden Co-Trainer ins Team geholt.
»In puncto Führung können sie der Mannschaft einiges geben«, sagte Löw nun über Müller und den zweiten Rückkehrer Mats Hummels. Beide hätten »eine sehr starke Saison gespielt«.
Coach auf dem Rasen
Müller selbst bezeichnete sich einst als »Raumdeuter«; ein Begriff, der mittlerweile auch im Englischsprachigen genutzt wird, wenn über den Offensivspieler geschrieben wird. Müller deutet aber nicht nur den Raum zwischen den Gegnern, er deutet auch die Positionen und Aktionen seiner Mitspieler und die Möglichkeiten, die sich daraus ergeben. Und er deutet all das schnell und zieht die richtigen Konsequenzen.
Während der Geisterspiele ist Müllers Bedeutung für den FC Bayern nicht nur zu sehen, sondern zu hören. Er peitscht an, aber mehr noch, er gibt sogar Entscheidungen vor. Zuweilen hört man ihn gar Kommandos rufen, die normalerweise nur von der Trainerbank kommen. »Strukturierter angreifen! Mehr über die Sechser!«, hörte man ihn beim Aus in der Champions League gegen Paris Saint-Germain. »Er führt die Mannschaft, er führt seine Mitspieler und spielt auf einem sehr hohen Niveau«, sagte Flick nach seinem Amtsantritt in München über seinen Angreifer.
Das illustriert sein Spielverständnis, seine gedankliche Klarheit in Extremsituationen und einen Einfluss auf die Mannschaft, der weit über eigene Aktionen hinausgeht.
Der König ohne Ball
Lionel Messi ist der König des Dribblings, Kevin De Bruyne der des Passes – und Müller der ohne Ball. Er ist die Messlatte dafür, für Dribblings Raum zu öffnen und für Pässe Anspielmöglichkeiten zu bieten.
Weil das Laufen selbst nicht so schwer ist wie ein Pass oder ein Dribbling, kann man leicht übersehen, was die Schwierigkeit dabei ist: Der Fußballer muss sich so bewegen, dass die Gegenspieler schwer darauf reagieren können. Gleichzeitig so, dass er keine Teamkollegen blockiert, aber trotzdem genug Kontakt zu ihnen hält, um Pass- und Kombinationsmöglichkeiten zu schaffen.
Wie effektiv Müllers Läufe sind, zeigt sich vielleicht dann am besten, wenn man die Bewegungen anderer Spieler beobachtet.
Gerade gegen kompakte, tief stehende Abwehrreihen fällt es vielen Fußballern schwer, sinnvolle Routen aufzutun. Oft wählen sie dann gerade Läufe Richtung Tor. Aber die sind vorhersehbar und deshalb leicht zu verteidigen.
Müller hingegen findet immer wieder seitliche Bewegungen durch die gegnerischen Linien, diagonale Sprints in die Tiefe oder bogenförmige Läufe durch die gesamte Abwehr, die dazu führen, dass sogar drei, vier Abwehrspieler auf ihn reagieren. Und oft gelingt es am Ende dennoch keinem, effektiv zu verteidigen.

Müller im DFB-Trikot: 100 Einsätze, 38 Tore, 36 Assists, ein WM-Titel
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Überhaupt ist das der wahre Kern von Müllers Spiel: die permanente Suche nach Ideen, nach Lösungen für die Situation. Er tut dies offensiv wie auch defensiv in der Balleroberung und mit einem einmaligen Spielverständnis.
Der Müller, den Löw heute ins DFB-Team zurückgeholt hat, ist sogar besser als derjenige, den er 2019 ausmusterte.
Mit mehr Erfahrung ist er noch stärker im Spiel mit dem Ball geworden. Besonders seine Lösungen unter Druck sind spektakulär – und unerwartet. Beim FC Bayern sah man ihn zuletzt im Strafraum Pässe spielen in Winkel, die er eigentlich nicht sehen konnte; er schafft es immer wieder, mit Brust, Knie und Hacke die Bälle zum Torschuss aufzulegen. In der laufenden Bundesligasaison kam er bislang auf 21 Vorlagen. Eine Partie bleibt ihm noch, um den Rekord (ebenfalls 21 Assists) zu knacken. Aufgestellt hat ihn in der vergangenen Saison Müller selbst.
Müller wird das Offensivspiel in der Nationalmannschaft organisieren, er wird die jüngeren Kollegen um sich herum anweisen, Timo Werner oder Kai Havertz; Serge Gnabry und Leroy Sané kennen Müllers Kommandos ohnehin aus dem Klub.
Auch in einer anderen Spielphase wird man bei der EM Müllers Ansagen hören können: im Pressing.
Diese Rolle unterscheidet ihn von fast allen Topstars
Bereits beim WM-Sieg 2014 war er darin ein Schlüsselspieler: Beim 7:1 im Halbfinale gegen Brasilien nahm er Marcelo aus dem Spiel, im Viertelfinale gegen Frankreich (1:0) und im Endspiel gegen Argentinien (1:0 n.V.) war er derjenige, der die gegnerischen Innenverteidiger unter Druck setzte. Auch bei Bayern übernimmt er oft die Entscheidungen, wann und wo die Mannschaft ins hohe Pressing geht, kontrolliert mit seiner Position die gegnerischen Passwege und kommt häufig selbst in die Balleroberung.
Diese Rolle als Antreiber und Organisator der Defensive unterscheidet ihn von fast allen Topstars. Lionel Messi, Cristiano Ronaldo oder Kylian Mbappé sieht man darin eher selten.
Die DFB-Elf wird bei der EM unweigerlich zu einer Müller-Mannschaft. Sein Wirken wird dazu führen, dass die Elf besser zusammenspielt, dass mehr und bessere Bewegung im Spiel ist, dass mehr gesprochen wird, und ein Stück weit auch dazu, dass die Elf auf dem Rasen auf das Ziel fokussiert bleibt.
Am besten so, wie der FC Bayern es unter Flick vormachte. Müllers Comeback deutet an, dass Löw genau diese Bayern zu seinem Vorbild für die EM genommen hat. Dass er dort ebenso auftreten will, wie es die Münchner in den vergangenen eineinhalb Jahren taten.
Thomas Müller hat 100 Länderspiele absolviert, er ist Weltmeister, gewann mit den Bayern zweimal die Champions League, holte etliche weitere Titel. Und doch gibt es vielleicht keinen Spieler, der eine solche Vita vorzuweisen hat und gleichzeitig weiter davon entfernt ist, von der breiten Öffentlichkeit als unumstrittener Weltklassespieler anerkannt zu werden.
Es gab immer einen Miroslav Klose, Arjen Robben oder Robert Lewandowski, jemanden, der Müllers Präsenz überstrahlte. Die Konstante war aber Müller: Er sorgt dafür, dass das Team funktioniert und dadurch alle Spieler um ihn herum funktionieren. Ohne ihn hätte manch anderer Stürmer weniger geglänzt. Es mag bei der EM deutsche Stürmer geben, die häufiger treffen als Müller. Aber die Wahrscheinlichkeit ist groß, dass sie das auch ihm zu verdanken haben.
Dass Löw Müller zur EM mitnimmt, sollte daher keine Überraschung sein. Die Überraschung ist vielmehr, dass der Bundestrainer zuvor auf ihn verzichtet hat.