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Brasilianische Fußballfans: Keine Lust auf WM

Foto: Max Brugger

Brasilianische Fußballfans Neue Lieder gegen Gewalt

Die Fußball-WM bewegt Brasilien - aber anders als es Regierung und Fifa gerne hätten. Regelmäßig protestieren Menschen gegen teure Stadionbauten, soziale Missstände und Korruption. Die organisierte Fanszene beteiligt sich kaum daran, sie kämpft gegen Gewalt in den eigenen Reihen.

Die Fußball-Weltmeisterschaft im eigenen Land: Ein Fest für die brasilianischen Fans! Sollte man meinen. Doch diese sind keineswegs gut auf die WM zu sprechen. Die Torcidas Organizadas, die großen organisierten Fangruppen, haben die Hoffnung aufgegeben, dass es ein Fest für sie wird.

Denn eigentlich sind sie es gewohnt, mit Zigtausenden ihre Mannschaft im Stadion zu feiern. Bei Toren fallen sie als riesige Menschenlawine die Stufen hinunter, sie wandern mit dem Ball von der Gegengerade zur Eckfahne und weiter hinters Tor. Mit ihren großen Schwenkfahnen, langen Gesängen und Musikinstrumenten sind sie ständig in Bewegung. In ihrer Nähe lassen sich Verkäufer mit brasilianischen Grillständen nieder.

Und nun? Die neuen WM-Stadien haben Blocktrennung. Stehplätze fehlen. Die Eintrittspreise sind gestiegen. Kommerzielle Hot-Dog-Stände tauchen auf. Die Torcidas fühlen sich in ihrer Fankultur eingeschränkt.

Für die Gruppe Jovem Flamengo vom populärsten brasilianischen Verein Clube de Regatas do Flamengo aus Rio de Janeiro spielt die WM deshalb keine Rolle. Fábio Albuquerque Massá aus dem Vorstand sagt: "Die Tickets sind teuer und schwer zu bekommen. Und der Ligafußball ist uns wichtiger."

An den sozialen Protesten in Brasilien im Vorfeld der WM beteiligen sich die Torcidas trotzdem nicht. "Einzelne Mitglieder waren mal bei Demos dabei. Als Gruppe machen wir aber nicht mit", sagt Francisco Dione de Lima aus dem Vorstand der Torcida Leões da TUF vom Fortaleza EC. "Die Proteste sind stark an Parteien gebunden, und wir verstehen uns nicht als politische Organisation."

Gewalt in den eigenen Reihen

Außerdem haben die Torcidas zurzeit ein ganz anderes Problem: Gewalt in den eigenen Reihen und einen extrem schlechten Ruf. Das ändert sich erst jetzt und nur sehr langsam. Die Konflikte sind uralt und schwelen schon seit langer Zeit.

Nachdem Jugendliche die Torcidas in den sechziger Jahren gegründet hatten, um sich während der Militärdiktatur zumindest im Fußball Freiräume zu schaffen, eskalierten die Rivalitäten zwischen verfeindeten Gruppen ab den achtziger Jahren. Bei Auseinandersetzungen mit der Polizei gab es seitdem immer wieder Tote.

Das schlechte Image liegt aber auch an den streng hierarchischen Strukturen der Torcidas. Wenngleich sie im Stadion wie riesige Ultragruppen wirken, sind sie ähnlich wie deutsche Supporters-Clubs organisiert, nur größer, professioneller - aber auch undurchsichtiger. Sie haben Zehntausende Mitglieder, Vorstände, Präsidenten, Vereinsheime, Fanartikel-Shops und teils eigene Karnevalsvereine. Der Präsident hat oft nur den Job, Boss seiner Torcida zu sein; dafür wird er bezahlt. "Unser Chef darf sich nehmen, was er braucht", sagt Dione de Lima von TUF. "Es gibt keine Kontrolle." In der brasilianischen Gesellschaft gelten die Torcidas deswegen als korrupt.

Dabei übersieht sie die andere Seite: So gut wie jede Gruppe hat eigene Sozialprojekte. TUF versorgt ein ganzes Dorf in einer trockenen Gegend mit Wasser. Jovem kümmert sich um Obdachlose und organisiert Blutspenden. Die großen Vereinsheime kommen Gemeindezentren gleich, einige haben Schlagzeugschulen oder Boxringe für Jugendliche.

Jugendlichen eine Perspektive geben

Diese Seite betonen die Torcidas in der jüngsten Zeit besonders: "Der Kampf gegen Gewalt ist unser großes Thema", sagt Massá von Jovem. Dione de Lima von TUF würde sogar Gewalttäter aus den eigenen Reihen der Polizei übergeben. Personen in den riesigen Gruppen zu identifizieren sei aber schwer, denn die Gruppenkleidung dürfe jeder kaufen. Um Mitglied zu werden, müsse man nur ein Formular ausfüllen, sagt Massá.

"Wir leben in einer sehr gewalttätigen Gesellschaft", sagt Helvécio Araujo, Fachreferent für Fanfragen im brasilianischen Sportministerium. "Die Gewalt hat nicht nur mit Fußball zu tun." Araujo setzt auf Jugendarbeit: "Jugendliche, die keine Perspektive haben, nutzen den Fußball als Ventil, zum Austoben. Wir müssen ihnen etwas anderes bieten." Das will er mit den Torcidas zusammen schaffen. "Wir haben den Dialog mit den Fans erst jetzt begonnen", sagt er. "Wir haben noch einen langen Weg vor uns."

Dieser Weg kann ganz unterschiedlich aussehen. "Unsere Lieder waren früher sehr aggressiv", erinnert sich Dione de Lima aus Fortaleza. "Wir haben nur den Gegner beleidigt. Jetzt wollen wir nicht gegen den anderen Verein, sondern für unsere Mannschaft singen." Einige der bekannten Fußball-Musiker haben sich vor kurzem sogar öffentlich dafür entschuldigt, dass sie früher brutale Lieder geschrieben haben.

Araujo ist fasziniert von den deutschen Fanprojekten, die von Politik, der Deutschen Fußball-Liga (DFL) und vom Deutschen Fußball-Bund (DFB) finanziert werden. Dieses System will er übertragen. Um das fehlende Vertrauen aufzubauen, lud er bereits 45 Torcidas aus ganz Brasilien nach Rio zu einer Diskussionsrunde ein. Trotz offener Gespräche zeigte sich da, dass das Land in Sachen Fanarbeit erst am Anfang steht. "Am Abend haben sich die Torcida-Chefs in die Haare bekommen", erzählt Araujo. "Einer hatte eine Pistole mitgebracht. Er musste gehen."

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