Nachwuchssorgen beim DFB Deutschland ist kein Torwartland mehr

Alexander Nübel hat beim FC Schalke seinen Stammplatz verloren
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Im deutschen Fußball gibt es eine Konstante: Toni Turek, Hans Tilkowski, Sepp Maier, Toni Schumacher, Bodo Illgner, Oliver Kahn, Manuel Neuer - deutsche Torhüter gehören seit Jahrzehnten zur Weltspitze. Ob sich Alexander Nübel irgendwann in diese Liste einreihen wird, ist derzeit nicht zu sagen. Nübel ist 23 Jahre alt, gilt als größtes deutsches Torwarttalent - und ist mit seiner drohenden Reservistenrolle das Sinnbild eines Problems: Nachwuchskeeper schaffen derzeit nicht den Sprung in die Bundesliga, was an den Planungen der Vereine, aber vor allem auch an der Qualität der Talente liegt.
Seit der Bekanntgabe von Nübels Wechsel zum FC Bayern München im vergangenen Januar ist viel passiert. Er verlor bei seinem derzeitigen Klub, Schalke 04, das Amt des Kapitäns. Der königsblaue Anhang reagierte zunächst leidenschaftslos. Die Beleidigungen und Pfiffe folgten, als Nübels Leistungen schwächer wurden. Der ehemalige Paderborner wirkte verunsichert und verschuldete gegen Leipzig und Köln Gegentore. Bevor die Coronakrise die Bundesliga lahmlegte, war Nübel auf Schalke seinen Stammplatz los.

In der Hinrunde war Alexander Nübel noch Kapitän auf Schalke, dann folgte der Wechsel zum FC Bayern
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Nübel selbst hält sich mit Äußerungen zurück. Und doch ist sein Wechsel zu den Bayern immer wieder Thema. In München stehen mit Neuer und Sven Ulreich zwei Torhüter bis 2021 unter Vertrag. Neuer möchte verlängern und möglichst immer spielen, wie er selbst sagt, über die Laufzeit des neuen Vertrags soll es einen Dissens geben. Ulreich ist der ideale Ersatztorwart, loyal und stets einsatzbereit, ein Wechsel ist derzeit kein Thema. Und dann kam in Spanien noch das Gerücht auf, Marc-André ter Stegen könnte bei einem Neuer-Abgang zu den Bayern wechseln - was nach SPIEGEL-Informationen jedoch sehr unwahrscheinlich ist.
Für Nübel stellen sich in dieser Gemengelage die kritischen Fragen, die schon im Januar aufkamen: Kommt sein Wechsel zu früh? Geht er bei den Bayern unter? Wie soll er sich als Torwart auf der Ersatzbank weiterentwickeln?
Nübel hat erst 40 Bundesligaspiele absolviert
Das entscheidende Kriterium auf dem Weg zu einem Spitzentorhüter ist Spielpraxis. Nübel kommt mit einem Erfahrungsschatz von 40 Bundesliga-Einsätzen nach München, vermutlich kommen keine weiteren Spiele hinzu. Bei den Bayern wird er mindestens eine weitere Saison Ersatz sein. "Mit Alexander Nübel bekommen wir einen hochtalentierten Torwart, der die Möglichkeit besitzt, sich hinter Manuel Neuer zu entwickeln und zu lernen", sagte Oliver Kahn, der designierte Vorstandsvorsitzende der Bayern, unlängst in der "Sport-Bild".
Marc Ziegler, DFB-Torwartkoordinator
Training zur Weiterentwicklung, kann das funktionieren? Experten sehen das kritisch. "Als Torhüter muss man reifen, Erfahrungen sind ganz wichtig. Die Jungs brauchen Spielpraxis, das ist das beste Mittel zur Weiterentwicklung", sagt Marc Ziegler, früher Bundesliga-Keeper in Stuttgart und Dortmund und derzeit Torwartkoordinator beim Deutschen Fußball-Bund (DFB) und zuständig für den Nachwuchs auf dieser Position in Deutschland, im Gespräch mit dem SPIEGEL. "Trainingsformen auf höchstem Niveau sind wichtig, ersetzen aber kein Spiel."
Nübel stieg mit 22 Jahren zum Stammtorwart beim FC Schalke auf, das war im Vergleich zu anderen Top-Torhütern bereits spät. Ter Stegen schaffte diesen Schritt in Mönchengladbach mit 19, Neuer auf Schalke mit 20, Hugo Lloris in Lyon ebenfalls mit 19, Alisson Becker in Porto Alegre mit 21 Jahren. "Die Spielpraxis, die man in diesen Jahren bekommt, ist Gold wert", sagt Uwe Gospodarek dem SPIEGEL. Er ist aktuell Torwarttrainer beim VfB Stuttgart und als langjähriger Nachwuchscoach beim DFB und beim FC Bayern ebenfalls ein Experte für die Torwartentwicklung in Deutschland. Wenn es für Nübel schlecht läuft, steht er im Alter von 25 Jahren weiterhin bei 40 Bundesligaspielen.
Zahl der ausländischen Torhüter in der Bundesliga steigt
Der Blick in die Bundesliga zeigt, dass das Problem über Nübel hinausgeht. Bis zu zehn Klubs setzten an den bisherigen 25 Spieltagen auf ausländische Torhüter. Unter den deutschen Keepern waren nur die aufgrund von Verletzungen reingerutschten Florian Kastenmeier (Düsseldorf, 22) und Florian Müller (Mainz, 22) sowie Nübels Schalke-Nachfolger Markus Schubert, 21, jünger als Nübel. Zum Vergleich: In der Saison 2014/2015 gab es fünf ausländische Torhüter in der Bundesliga, zehn Jahre davor sogar nur zwei. "Der Wegfall vieler U23-Mannschaften ist für junge Keeper auch ein Problem", sagt Ziegler. "So wird den Torhütern der Übergang erschwert."
Schubert ist auch U21-Nationaltorwart, sein Vertreter Lennart Grill spielt bei Drittligist Kaiserslautern. Die beiden U20-Torhüter Christian Früchtl (FC Bayern II) und Nico Mantl (Unterhaching) sind ebenfalls in der 3. Liga aktiv. "Vor einem Jahr sah die Situation trister aus", sagt Ziegler, der in seiner Karriere auch zeitweise auf der Bank sitzen musste. "Die jungen Torhüter, die wir in Deutschland haben, sind gut - ob sie Weltklasse werden, entscheiden mehrere Faktoren." Gut heißt derzeit allerdings häufig: nicht gut genug für die Bundesliga.

Marc Ziegler ging nach seiner Karriere zum DFB und leitet dort die Torwartausbildung
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Der 43 Jahre alte Ziegler hat gemeinsam mit den Torwarttrainern der Bundesligisten und der Nachwuchsleistungszentren technische Defizite beim Nachwuchs ausgemacht, "das betrifft sowohl das torwarttechnische als auch das spieltechnische Niveau". Immer wichtiger wird das Zusammenspiel von Torhütern und Feldspielern.
Ziegler hat die Leistungen der Top-Keeper der vergangenen Champions-League-Saison analysiert. Ter Stegen, Alisson oder Lloris hätten demnach "pro Spiel im Schnitt nur vier Aktionen in der Torverteidigung". Hinzu kämen fünf oder sechs Situationen im Raum. Umso bedeutsamer ist die Integration der Torhüter ins Mannschaftstraining, was auch Gospodarek bestätigt: "Es ist wichtig, dass die Torhüter bei den Spielformen mit den Feldspielern immer dabei sind. Passschärfe und Anlaufdruck kann man im Torwarttraining nicht simulieren."
Persönlichkeit soll mehr Bedeutung bekommen
Ziegler nennt vier Faktoren, auf die im Training in Zukunft verstärkt geachtet werden soll:
Mannschaftstaktisches Verhalten: das Zusammenspiel von Torhüter und Feldspielern
Torwarttaktisches Verhalten: Stellungsspiel und Verhalten im Raum
Torwarttechnisches Verhalten: Ausführung der Technik im torwartspezifischen Bereich
Persönlichkeit: Coaching von Teamkollegen und Präsenz auf dem Platz
Dem vierten Punkt wird beim DFB in allen Bereichen der Talentförderung eine große Bedeutung eingeräumt, so hört man. Menschenführung und Persönlichkeitsentwicklung sind laut Oliver Bierhoff, Direktor Nationalmannschaften, in der Vergangenheit verloren gegangen. Das denkt auch Gospodarek: "Man sucht das gewisse Etwas, und das verlierst du im Jugendbereich, wenn du den Spielern die Persönlichkeit nimmst und sie in ein Schema presst."
Beim DFB gehen die Verantwortlichen davon aus, in der Nationalmannschaft bis zur EM 2024 im eigenen Land gut aufgestellt zu sein. Danach könnte eine Lücke entstehen, da die heute 18 Jahre alten Talente womöglich von den Neuerungen nicht mehr profitieren. Das gilt auch für die Torhüter, wobei der heute 27-jährige ter Stegen als potenzieller Neuer-Nachfolger noch bis zur WM 2030 weiterspielen könnte.
Im Fall von Nübel hält Ziegler auch einen positiven Ausgang für denkbar. "Alex hat in seiner Karriere bereits gezeigt, dass er auf Knopfdruck funktionieren kann. Diese Gabe, die er sowohl bei Schalke als auch in der U21 gezeigt hat, wird ihn auch in Zukunft weiterbringen." Dafür muss er aber erstmal eingesetzt werden.