Taktik-Streit in Hoffenheim Überfordert Julian Nagelsmann seine Spieler?

Hoffenheims Trainer Julian Nagelsmann treibt seine Mannschaft an während des Spiels gegen Borussia Mönchengladbach
Foto: Martin Meissner/ APDiesen Seitenhieb konnte sich Julian Nagelsmann nicht verkneifen. Die Pressekonferenz der TSG Hoffenheim hatte soeben erst begonnen, als er nach den Stärken des kommenden Gegners Werder Bremen (Samstag, 15.30 Uhr, live im SPIEGEL ONLINE Ticker) gefragt wurde. Seine Antwort? "Sie ändern ständig im Spiel die Grundordnung - der war gut, gell?"
Es war Nagelsmanns Replik auf die Kritik seines Stürmers Andrej Kramaric. Dieser hatte seinem Trainer via "Bild"-Zeitung vorgeworfen, mit seinen ständigen taktischen Wechseln die Mannschaft zu destabilisieren: "Wir wechseln zu oft das System während des Spiels. Wir sind keine Roboter, sondern Menschen. Das sind viele Fehler von draußen."
Kramarics Worte waren im Kontext gelesen weniger brisant als die Kurzzusammenfassung. So sagte der kroatische Vizeweltmeister auch, Nagelsmanns Wechsel seien nicht der einzige Grund, warum Hoffenheim in dieser Saison schon elf Führungen verspielt habe (neun Unentschieden, zwei Niederlagen). Doch der Vorwurf stand im Raum: Schaden Nagelsmanns Umstellungen während des Spiels mehr als sie helfen?

Julian Nagelsmann und Andre Kramaric besprechen sich während des 2:1-Siegs gegen den 1. FC Nürnberg Anfang März
Foto: Uwe Anspach/ dpaFakt ist: Kein Trainer in der Bundesliga greift derart häufig und intensiv in das Spiel seiner Mannschaft ein wie Nagelsmann. In manchen Spielen dauert es keine fünf Minuten, ehe er einen Spieler zu sich winkt, um ihm taktische Anweisungen zu geben. Um auf seine Mannschaft einzuwirken, hat er methodisch schon Vieles ausprobiert: Vom wilden Gestikulieren in seiner Coaching Zone bis hin zu Zetteln, die auf dem Spielfeld weitergereicht werden.
Nagelsmanns Anweisungen können kleinere Wechsel betreffen, wenn zum Beispiel zwei Spieler ihre Positionen tauschen sollen. Oft verändert er gleich die gesamte Grundordnung, stellt etwa von einer Viererkette auf eine Dreierkette um. Es gibt keine genaue Methode, diese Art von taktischen Umstellungen zu quantifizieren. Die (methodisch nicht ganz korrekte) Auswertung der Seite Whoscored.com gibt an, Nagelsmann habe in 15 Rückrundenspielen 18-mal seine Grundordnung während des Spiels verändert. Der wahre Wert dürfte weit höher liegen.
Nagelsmann will sich treu bleiben
Nach dem kleinen Seitenhieb zu Beginn der Pressekonferenz adressierte Nagelsmann im späteren Verlauf das Thema erneut . Er gestand selbst ein, dass seine Umstellungen manches Mal zu Problemen geführt hätten. Doch er sagt auch, er sei bereit, aus seinen Fehlern zu lernen.
"Ich schaue mir alle meine Spiele an, verschriftliche alle Entscheidungen, die ich getroffen habe." Manchmal komme er zu dem Ergebnis, "dass die Umstellungen deutlich zu viel waren", etwa beim 5:2-Sieg gegen den FC Schalke. Doch grundsätzlich sei er überzeugt von seinem Weg.
Tatsächlich lieferte ausgerechnet das jüngste 2:2-Unentschieden gegen Borussia Mönchengladbach Argumente pro Nagelsmann. Nachdem Gladbachs Trainer Dieter Hecking nach der Pause von einer 5-3-2-Grundordnung auf ein 4-1-4-1-System umgestellt hatte, reagierte Nagelsmann blitzschnell mit einer Stärkung des Mittelfelds. Hoffenheim behielt auch nach der Pause die Oberhand.
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Auch die Statistik steht auf Nagelsmanns Seite. Keine Bundesligamannschaft startet so gut aus der Halbzeitpause wie die TSG - in jener Phase also, in der sich das Einwirken der Trainer auf ihr Team in der Kabine niederschlägt. Siebzehn Tore schoss die TSG in der Viertelstunde nach der Pause.
Wenn es also nicht vorrangig an Nagelsmanns Taktikwechseln liegt, dass die TSG in dieser Saison so häufig Führungen verspielt - woran liegt es dann? Auch hierfür stand die Partie gegen Gladbach sinnbildlich. Hoffenheim gab 26 Schüsse ab, Gladbach 11. Am Ende stand es 2:2. Ligaweit sind die Hoffenheimer das Team mit den zweitmeisten Schüssen, das Verhältnis zwischen eigenen und gegnerischen Torschüssen ist nur bei Bayern und Leipzig besser.
Der SPIX unterstreicht, wie sehr es Hoffenheim an einem Chancenverwerter mangelt. Fast alle Hoffenheimer Spieler haben hohe SPIX-Werte; ein Faktor, der Nagelsmanns Qualität unterstreicht, aus seinen Spielern das Bestmögliche herauszuholen. Laufen Hoffenheimer Spieler als Stürmer auf, ist ihr Torgefahr-SPIX vergleichsweise niedrig. So etwa bei Ishak Belfodil (66), Joelinton (49), Nadiem Amiri (38) - und bei Andre Kramaric (57). In vielen Spielen hätte Hoffenheim höher führen müssen, als sie es taten.
Das befeuert die zweite große Schwachstelle der Hoffenheimer: ihr Verhalten in der Schlussphase. Während sie gerade in der ersten Halbzeit meist in höchstem Tempo agieren, weit vorrücken und den Gegner ständig unter Druck setzen, fehlt ihnen dafür in der Schlussphase so manches Mal die Kraft. Gegen Gladbach etwa standen sie zum Ende sehr tief und luden den Gegner in die eigene Hälfte ein.
Gegentore in der Schlussviertelstunde
Die Hoffenheimer haben bereits vierzehn Tore in den Schlussminuten kassiert, also 30 Prozent ihrer gesamten Gegentore. Einzig beim FC Augsburg liegt der Anteil der Last-Minute-Gegentreffer leicht höher als bei Hoffenheim (31 Prozent). In den Schlussminuten bringen sich die Hoffenheimer häufig um den verdienten Lohn.
Ob hier auch mentale Erschöpfung hineinspielt? Kramarics Aussagen lassen sich dementsprechend deuten. Wirklich messbar ist das nicht. Es lässt sich nur sagen: Würde Hoffenheim die eigenen Chancen besser verwerten, würden sie in der Schlussphase nicht so häufig in die Bredouille kommen. So müssen sie zwei Spieltage vor Saisonschluss noch um die Europa-League-Qualifikation bangen.
Egal, ob sich Hoffenheim für Europa qualifiziert oder nicht: Nagelsmann wird kommende Saison nicht mehr in Hoffenheim weilen. Er wird dann auf der Trainerbank von RB Leipzig sitzen. Auch dort wird er seiner Philosophie treu bleiben.