Türkei-Spieler Altintop "Ich habe Deutschland alles zu verdanken"
SPIEGEL ONLINE: Haben Sie Angst?
Altintop: Wovor?
SPIEGEL ONLINE: Dass Ihnen am Mittwoch im Halbfinale gegen Deutschland die Mitspieler ausgehen? Ihr Trainer Fatih Terim hat gestern angekündigt, wegen der vielen Verletzten notfalls einen Torwart als Feldspieler einzusetzen.
Altintop: Tja, wir sind nur noch 14 einsatzfähige Spieler, inklusive der beiden Torhüter. 14 Stück! Schon verrückt, aber die Realität. Angst haben wir trotzdem keine. Warum auch? Wir haben doch nichts zu verlieren.
SPIEGEL ONLINE: Ist es Zufall, dass die türkische Nationalmannschaft im Halbfinale eher einem Lazarett gleicht als einer Profimannschaft?
Altintop: Dass Nihat sich in der Schlacht gegen die Kroaten in der 115. Minute verletzt, ist einfach nur unglücklich und vor allem ärgerlich. Manche anderen Verletzungen sind vielleicht kein Zufall.
SPIEGEL ONLINE: Liegt es etwa an der medizinischen Abteilung?
Altintop: Gute Frage. Wir sind noch ein junges, in manchen Belangen auch unerfahrenes Team. Ein medizinisches Gutachten kann ich nicht abgeben.
SPIEGEL ONLINE: Haben Sie trotzdem Siegchancen gegen die deutsche Mannschaft, die nach derzeitigem Stand mit 23 einsatzbereiten Spielern planen kann?
Altintop: Natürlich können wir die Deutschen schlagen. Wir werden befreit und total unbekümmert spielen. Ob sie 4-2-3-1 oder 4-4-2 spielen, ist eigentlich Wurscht. Wir konzentrieren uns auf unsere eigene Spielphilosophie. Wenn wir uns auf unsere Stärken konzentrieren, haben wir auch eine große Chance. Die deutsche Mannschaft sucht fast immer direkt den Torabschluss. Mit unserer Ruhe beim Kombinieren können wir sie hoffentlich verunsichern. Ich bin wirklich optimistisch. Die DFB-Elf ist ist eine Turniermannschaft mit großartigen Spielern. Vor allem Philipp Lahm. Der spielt eine Weltklasse EM und ist dabei schon so rundum erfahren für seine 24 Jahre, dass er auch außerhalb des Platzes Anerkennung genießt. Ich nenne ihn immer "Manager", weil ich mir heute schon sicher bin, dass er irgendwann mal auf dem Sessel von Uli Hoeneß oder Oliver Bierhoff sitzen wird. Er ist so wahnsinnig breit talentiert.
SPIEGEL ONLINE: An welcher Position in der Hierarchie der türkischen Nationalmannschaft stehen Sie? Für Miroslav Klose sind Sie der beste Spieler im türkischen Team bei dieser EM.
Altintop: Ich darf mittlerweile mitbestimmen, wie wir auftreten. Wenn ich der Meinung bin, wir müssen was ändern, gehe ich zum Trainer und spreche es an. Bei den Deutschen darf Michael Ballack ja auch Änderungsvorschläge äußern. Terim vertraut mir. Das habe ich mir hart erarbeitet, ich bin seit drei Jahren bei jedem Spiel von Beginn an dabei.
Hamit Altintop über die Probleme seines Bruders in der Nationalelf und die Halbzeitansprachen des Trainers Fatih Terim
SPIEGEL ONLINE: Könnte die türkische Nationalmannschaft bei dieser EM eine ähnliche Rolle spielen wie die Griechen vor vier Jahren?
Altintop: Von der Spielweise hoffentlich nicht. Aber klar, im Bezug auf den überraschenden Erfolg und die kämpferische Leistung stimme ich Ihnen zu. Wer weiß, vielleicht sind wir wie die Griechen 2004 auf dem Weg zum EM-Titel. Aber jetzt gilt unsere Konzentration dem Spiel gegen Deutschland.
SPIEGEL ONLINE: Können wir uns darauf einstellen, dass ihr Team so lange warten wird, bis Deutschland ein Tor gelingt, um dann in einem packenden Endspurt die Partie rumzureißen? Wie bereits gegen Kroatien und Tschechien?
Altintop: Glauben Sie wirklich, dass wir uns vor dem Spiel vornehmen, uns erst mal vorsichtig heranzutasten, dann ein bisschen hin und her zu kicken, den anderen beim Vollenden zuzuschauen und in der letzten Minute den Turbo einzustellen? Ich kann Sie beruhigen. Definitiv nicht. Für uns, unsere Landsleute vor dem Fernseher und vor allem für unseren Trainer wäre es auch mal entspannend, wenn uns ein Führungstreffer gelingen würde. Dann könnte Terim sich wenigstens in der Halbzeitpause mal abregen. In diesen 15 Minuten knallt es bei uns so heftig, dagegen waren die Ansprachen von Jürgen Klinsmann bei der WM 2006 zaghaft. Aber der eine oder andere Spieler braucht auch mal einen Tritt in den Hintern. Ich stehe da voll hinter ihm.
SPIEGEL ONLINE: Auch am Spielfeldrand wirkt Ihr Mentor sehr aufgewühlt, manchmal sogar beängstigend zornig.
Altintop: Stimmt. Ich glaube, manchmal schwitzt er mehr als der eine oder andere Spieler. Er fiebert mit, weil er wahnsinnig erfolgsorientiert ist. Er will dem türkischen Fußball viel geben. Deshalb wirkt er manchmal verkrampft. Joachim Löw wirkt da rationaler. Aber die Deutschen können mit ihren Gefühlen und Emotionen nach außen viel kontrollierter umgehen. Bei unserem Trainer weiß dafür jeder, wo er dran ist. Er ist verrückt, aber auf seine ganz spezielle Art, ein positiv verrückter Mensch.
SPIEGEL ONLINE: Er hat Ihren Zwillingsbruder Halil nach der EM-Vorbereitung überraschend nach Hause geschickt.
Altintop: Terim sagte, seine Leistung reiche nicht ganz aus. Das war erstmal ein Schock. Es ist sehr schade, gerade jetzt, da wir so viele Verletzungssorgen im Sturm haben und Halil die deutsche Mannschaft so gut kennt.
SPIEGEL ONLINE: Ihr Bruder hat schon vor einiger Zeit angedeutet, dass er keine richtige Akzeptanz in der Nationalmannschaft spüre, von den Kollegen scherzhaft "der Deutsche" gerufen wurde. Kann die Nicht-Nominierung auch damit zusammenhängen?
Altintop: Halil ist immer fleißig. Das weiß und schätzt Terim. Aber Sie haben Recht. Es gab da einen Wackelkontakt in einem Verbindungskabel zwischen ihm, der Mannschaft und dem Trainer. Deshalb konnte Halil seine Leistung nicht hundertprozentig abrufen.
SPIEGEL ONLINE: Eine schwierige Situation für Ihre Mutter, den einen Sohn aufbauen zu müssen und den anderen gleichzeitig vor dem Abheben auf dem Höhepunkt seiner Karriere zu bewahren?
Altintop: Ich hebe nicht ab, kein Sorge. Ernsthaft, unsere Mama hat uns schon immer beigebracht, dass es bei jedem Menschen Momente im Leben gibt, in denen es nicht so funktioniert, wie man es sich vorstellt. Sie hat immer gesagt, dass wir die Fehler als erstes bei uns selbst suchen sollen. Genau das macht Halil jetzt. Wir sind deshalb nicht böse auf Terim. Immerhin sind wir Zwillinge, da ist es eigentlich normal, dass eine Entscheidung gegen meinen Bruder auch irgendwie eine gegen mich ist. Vor allem weil der Trainer weiß, dass wir eine sehr enge Bindung haben. Ich erinnere mich noch genau an ein Spiel, bei dem ich nur durchschnittlich gespielt habe und der Coach zu mir sagte: Heute bist du entschuldigt, weil der Halil nicht da ist.
SPIEGEL ONLINE: Er hat es sich anders überlegt.
Altintop: Wenn Terim sich seiner Sache sicher ist, ist ihm alles andere egal. Er hat mittlerweile einen sehr hohen Stellenwert in der Türkei. Er war Trainer beim AC Mailand, hat mit Galatasaray 2000 den Uefa Cup gewonnen und ist weltoffen. Wussten Sie, dass wir auch mit einem amerikanischen Fitnesstrainer zusammen arbeiten? Wie die Deutschen. Solche Entwicklungen sind wichtig für uns, auch wenn ich befürchte, dass das Training während der ersten beiden Wochen ein bisschen zu intensiv war.
"Sobald ich das Trikot trage, fühle ich diesen Patriotismus"
SPIEGEL ONLINE: Warum fällt es Ihrer Mannschaft so schwer, das Spiel nicht nur im Griff zu haben, sondern auch das Tempo zu bestimmen, den Führungstreffer zu erzielen?
Altintop: Weil wir eine unerfahrene Mannschaft sind. Okay, der eine oder andere hat mal Champions League gespielt oder ist in der Türkei Meister geworden. Aber machen wir uns doch nichts vor. Die türkische Liga ist zwar auf einem guten Weg, kann aber noch lange nicht mit anderen europäischen Top-Ligen mithalten. Das haben wir mittlerweile akzeptiert. Wir sind ein Team, opfern uns für den andern auf. Genauso wie die Russen. Die Leute sagen zwar, dass wir die Last-Minute-Türken sind, aber glauben Sie mir, wir kriegen nichts geschenkt. Wir sind gegen Kroatien gerannt, bis wir Blutblasen an den Füßen hatten.
SPIEGEL ONLINE: Mit welchen Gefühlen gehen Sie ins Halbfinale?
Altintop: Das ist ein ganz besonderes Spiel für mich. Ich habe Deutschland viel, eigentlich alles, zu verdanken.
SPIEGEL ONLINE: Sind Sie im Herzen Deutscher?
Altintop: Nein. Vielleicht bin ich beides. Zuhause leben wir in einer kleinen türkischen Welt. Wir sprechen mit unserer Mama nur auf Türkisch und es wird türkisch gekocht. Verlasse ich Gelsenkirchen, treffe zum Beispiel meine Freunde in München, dann lebe ich in der deutschen Welt.
SPIEGEL ONLINE: Sind Sie durch Ihr regelmäßiges Spielen für die türkische Nationalmannschaft Ihrem Land noch näher gekommen?
Altintop: Ich stehe zu meinem Land. Sobald ich das Trikot trage, fühle ich diesen Patriotismus, meine Zugehörigkeit zur Türkei. Mit den guten und weniger guten Seiten.
SPIEGEL ONLINE: Apropos weniger gute Seiten. Die türkischen Fans ...
Altintop: Ich weiß, was Sie sagen wollen. Darf ich direkt einhaken?
SPIEGEL ONLINE: Bitte.
Altintop: Wissen Sie, was ich mir wünsche? Klar sollen die auf die Straße stürmen und feiern, gerne auch mit Fahnen. Aber alles im Rahmen. Die sollen unsere Siege feiern und nicht die Niederlage unserer Gegner. Das muss man trennen können. Außerdem bedeutet feiern nicht, die Straße drei Stunden lang zu blockieren. Es ist schön, einfach nur zu beobachten, wie sich die Leute vor Freude in den Armen liegen. Ich würde mich sehr freuen, wenn jeder Fan das Spiel am Mittwoch als ein großes Volksfest zwischen den Nationen betrachten würde. Unabhängig vom Ergebnis ist das Spiel eine große Chance, der immer diskutierten Integration einen Schritt näher zu kommen.
SPIEGEL ONLINE: Der türkische Literatur-Nobelpreisträger Orhan Pamuk sagte im Gespräch mit dem SPIEGEL, Fußball sei in der Türkei kein Opium fürs Volk, sondern eine Maschine zur Produktion von Nationalismus, Fremdenhass und autoritärem Denken. Das Geschäft fördere mehr den Nationalismus als das Zusammenwachsen einer Nation.
Altintop: Das sehe ich nicht so. Klar gibt es einzelne Verrückte, die den Fußball benutzen, um zum Beispiel auf eine politische Minderheit aufmerksam zu machen. Aber das sind Einzelne. Für mich ist wichtig, dass wir als Mannschaft keinen Anlass für aggressives Verhalten geben. Wir sind kein Team, das ohne jegliches Konzept einfach in die Gegner rein rennt, oder nur in die Hacken springt und um sich tritt. Um Gottes Willen. Wir haben eine junge, unerfahrene Mannschaft, die außerhalb des Platzes super tolerant ist. Was übrigens alles der Ertrag unseres Trainers ist, auch wenn er Ihnen manchmal beängstigend erscheint.
Das Interview führte Cathrin Gilbert