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Wales' Einzug ins Achtelfinale Leidenschaft wie ein Kontinent

Was für eine Sensation: Mit dem 3:0 gegen Russland erobert Wales den ersten Gruppenplatz vor dem Erzrivalen England. Die Fans vergießen Tränen der Rührung - und Trainer Chris Coleman findet pathetische Worte.

Auch die Betreuerriege hielt es nicht mehr an der Seitenlinie. Die walisischen Nationalspieler waren an diesem magischen Montagabend im Stade Municipal von Toulouse gerade dabei, eine Ehrenrunde zu drehen, als sich auch das Team hinter dem Team auf den Rasen begab: Physiotherapeut und Zeugwart, Torwarttrainer und Teamarzt, um den Spielern geschlossen Applaus zu klatschen. Es war ein stimmungsvolles Bild, das sich zu den betörenden Gesängen ergab. Die einen bedankten sich bei den Anhängern, die anderen gratulierten den Spielen. Und irgendwann lag sich ganz Wales nach dem 3:0-Sieg gegen Russland in den Armen.

"Wir sind Erster! Das ist absolut fantastisch", jubilierte Christopher "Chris" Coleman. Der charismatische Nationalcoach mit der knallroten Krawatte, vor knapp drei Jahren angetreten, hat eine Mannschaft geformt, die einen Erfolg errungen hat, von dem die rund 15.000 Anhänger im Südwesten Frankreichs vielleicht geträumt, mit dem sie aber nie und nimmer gerechnet haben.

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EM 2016: Bale schreibt mit Wales Geschichte

Foto: REMY GABALDA/ AFP

Der bärtige Abräumer Joe Ledley legte einen spontanen Freudentanz vor der Kurve hin, der in keinem Tanzkurs gelehrt wird; der hünenhafte Torwart Wayne Hennessey wollte gar nicht aufhören, sein Handtuch zu schwenken. Und während auf dem Rasen die Umarmungen nicht endeten, flossen auf den Rängen Freudentränen. Damit war nun wahrlich nicht zu rechnen gewesen.

Als Minuten nach Schlusspfiff die Tabelle der Gruppe B auf der Videowand eingeblendet wurde, die Wales als Tabellenersten vor dem Erzrivalen England auswies, fuhr der nächste Begeisterungssturm durch das kleinste aller EM-Stadien.

Aber war das nicht der richtige Ort für einen historischen Moment? "Geographisch sind wir klein, aber was die Leidenschaft angeht sind wir ein Kontinent", sagte Coleman pathetisch. Der ehemalige Verteidiger von Swansea City, einst jüngster Coach der Premier League, steht mit 45 Jahren auf dem Höhepunkt seiner Karriere, weil er vor allem eins geschafft hat: den Nachweis zu erbringen, dass Wales mehr ist als nur Gareth Bale. Gewiss, der Superstar ragte mit seinem Tempo, seiner Technik und seinem dritten Turniertor zum 3:0 (67. Minute) abermals heraus, aber Coleman unterstrich: "Gareth Bale weiß, dass er Unterstützung braucht, er kann es nicht allein."

Der Teamchef hat dem Topspieler eine zentrale Rolle gegeben, in der der bald 27-Jährige viel besser am Spiel teilnimmt als bei Real Madrid, wo er meist an der Seitenlinie lauert. Vor allem Aaron Ramsey profitierte im Wechselspiel mit Bale davon und erzielte nach einem Traumpass von Joe Allen das 1:0 (11.), dem Neil Taylor alsbald das 2:0 folgen ließ (20.). "Das war ein klasse Ball von Joe. Wir haben lange auf solch einen Moment gewartet", erklärte der zum "Mann des Spiels" gekürte Ramsey.

"Jetzt kann alles passieren"

Der blondierte Offensivmann des FC Arsenal, der sich oft genug in seiner Karriere selbst im Wege gestanden hat, brillierte mit Mitspielern, die fast allesamt vom Stahlbad Premier League profitieren, aber fast durchgängig bei Mittelklasseklubs angestellt sind - und dort oft nur Mitläufer sind. "Wir wollten anerkannt werden für unsere gute Arbeit. Das Ziel war, einfach durchzukommen. Und jetzt die Fans zu hören, ist klasse", ergänzte Ramsey noch, der beim Blick voraus ankündigte: "Jetzt kann alles passieren."

Am Samstag bestreitet Wales sein Achtelfinalspiel im Pariser Prinzenpark gegen einen Gruppendritten, und Coleman merkte zurecht an: "Das ist alles neu für uns. Wir sind kein Land, das regelmäßig ein Halbfinale oder Finale spielt." Gewiss nicht: Zum ersten Male seit 1958 sind die Repräsentanten in den feuerroten Trikots wieder bei einem großen Turnier dabei, und wie viel Kampfgeist ihnen inne wohnt, zeigte sich auch vor dem Anpfiff: Als nämlich die Uefa zur offiziellen Matchbesprechung bat, fragte die walisische Delegation - die offiziell als Gast geführt wurde und in Ausweichjerseys hätte spielen müssen -, ob sie nicht in Rot auflaufen könne.

"Rot ist unsere Farbe. Diese Hemden wollten wir tragen. Russland hat zum Glück eingewilligt", erzählte Colemann. Für ihn ist jetzt alles in der K.-o-Runde "ein Bonus". Man nehme jetzt, "was kommt, denn schon das Achtelfinale ist wie ein Halbfinale oder Finale für uns." Eines könne er versprechen: "Wir spielen jetzt mit großem Selbstvertrauen." Und vielleicht dem größten Stolz aller Achtelfinalteilnehmer.

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