Werder im Uefa-Cup-Finale Hamburg gibt sich die Kugel
Nach dem Schlusspfiff schlüpfte HSV-Stadionsprecher Dirk Böge blitzschnell in die Rolle eines Seelsorgers für die im Stadion verbliebenen Getreuen. "Alles gegeben" hätten die Hamburger. Und "doch eigentlich ganz gut gespielt".
Überhaupt: "Es gibt nun mal Tage wie diese."
Und es gibt einfach entscheidende Unterschiede, wollte man hinzufügen, zwischen jenem HSV und den siegreichen Bremern, die nun am 20. Mai im Istanbuler Uefa-Cup-Finale gegen Schachtjor Donezk stehen. Werder hatte in dem Spiel am Donnerstagabend die beiden stärksten Individualisten in ihren Reihen, Claudio Pizarro und den überragenden Diego. Sie waren galliger, entschlossener.
Außerdem hatten sie eine Papierkugel auf ihrer Seite.
Ein zusammengeknülltes Überbleibsel einer Choreografie der HSV-Fans lag auf dem Platz. Es stand 1:2 für Bremen in der zweiten Halbzeit. Hamburgs Verteidiger Michael Gravgaard wollte einen Rückpass zu Torwart Frank Rost spielen. Der Ball jedoch prallte auf die Papierkugel - und stieg nach oben. Gravgaard erwischte ihn nicht richtig, berührte ihn noch mit dem Schienbein, dann kullerte er ins Toraus.
Es gab Ecke.
Dann das 1:3 für Bremen. Der wohl entscheidende Treffer.
Unfassbar.
"So viel Pech kann man doch gar nicht haben. Ich habe mich voll auf den Ball konzentriert, und plötzlich sprang der einfach weg", sagte Gravgaard nach dem Spiel.
Am Ende verkürzte Hamburg auf 3:2 - was dem kleinen Stück Papier noch ein bisschen mehr Bedeutung zukommen ließ. Die kleine Kugel wurde später, nach dem Abpfiff, noch groß in die Kameras gehalten. Im Fernsehen wurde sie wie ein Corpus Delicti präsentiert und debattiert. Werders Manager Klaus Allofs ließ sich gar damit fotografieren.
Trainer Martin Jol wies darauf hin, dass das 1:3 durch Werder-Kapitän Frank Baumann (83.) das erste HSV-Gegentor nach einem Eckball in der gesamten Saison war. Und bedauerte, dass er seine Defensivspezialisten Silva (verletzt) und Guy Demel (erschöpft) zuvor hatte auswechseln müssen: "Das kommt davon, wenn die richtigen Leute nicht mehr da sind."
"Wir sind tierisch stolz darauf"
Die Bremer legten bei der Spielanalyse mehr Wert auf andere Aspekte. Per Mertesacker jedenfalls kommentierte den Sieg seines Teams am Ende trotzig: "Wir sind tierisch stolz darauf, dass die Mannschaft hier in Hamburg zweimal so eine gute Leistung gezeigt hat", sagte der Nationalverteidiger in Anspielung auf den Sieg im DFB-Pokalhalbfinale. Und gab zu verstehen, dass manche Aussage von Hamburger Spielern nach dem HSV-Erfolg im Hinspiel sein Team zusätzlich motiviert hatte. Dito Mittelfeldmann Torsten Frings: "Die Hamburger haben ein bisschen zu viel gefeiert nach dem letzten Spiel, das hat uns zusätzlich angestachelt."
So viel zum rhetorischen Nachspiel.
Wenn der HSV trotz der frühen Führung durch Olic (13.) physisch deutlich unterlegen war und nach dem Ausgleichstreffer durch Diego (29.) völlig den Mut verlor, hatte das allerdings auch klar benennbare Gründe. Die in der Liga abgeschlagenen Werderaner hatten das Uefa-Cup-Spiel gegen den HSV schon am vergangenen Bundesligaspieltag in Köln (0:1) im Blickpunkt - Hamburg dagegen musste am Sonntag gegen Hertha BSC Berlin sämtliche Reserven abrufen, um die letzte Chance in der Meisterschaft zu nutzen. Entsprechend ermattet agierte mancher HSV-Profi im für beide Teams 49. (!) Pflichtspiel der Saison.
Schon nach einer halben Stunde wirkten einige HSV-Spieler ziemlich müde - während nicht nur Mesut Özil und Diego auf Bremer Seite die Pause gegen Köln ziemlich gutgetan hatte.
"Ich habe gar nichts gemacht"
Neben der Papierkugelepisode gab es noch einige Szenen in diesem Spiel, die die Gemüter erregten. Bremens Per Mertesacker musste nach einem rüden Foul von Ivica Olic in der 53. Minute ausgewechselt werden. Merkwürdigerweise sah Schiedsrichter Frank de Bleeckers weder die Folgen noch die Ursache - und verwarnte Olic nicht einmal für dessen Foul.
Werders Spielmacher Diego sah wegen Reklamierens die Gelbe Karte. Und war nicht der einzige ("Ich habe gar nichts gemacht"), der fand, dass er da ein wenig willkürlich um den Einsatz im Finale gebracht worden war. Weil er für das Bremer Spiel mindestens so wichtig ist wie Franck Ribéry für das der Bayern, dürften Werders Verantwortliche im Hinblick auf das Finale große Sorgen haben. Diego wird womöglich nie mehr für Werder auflaufen - alle Fragen nach seinem etwaigen neuen Arbeitgeber Juventus Turin ließ er allerdings unbeantwortet.
Beim 1:2-Führungstreffer der Bremer (Pizarro, 66.) leistete übrigens HSV-Torwart Rost Schützenhilfe. Jetzt zum Ende der Saison dürfte man bilanzieren, dass der 35-Jährige dem Team kein einziges Spiel gewonnen, wohl aber das eine oder andere verloren hat. Immerhin war es allerdings Rost, der aussprach, was die meisten HSV-Fans im Stadion gedacht haben dürften: "Natürlich kann man am Saisonende hier noch vieles verspielen. Wir können auch noch sechster werden. Das ist Fakt."
Der HSV hat zwar alles in allem eine höchst erfreuliche Saison gespielt - ist aber nun binnen weniger Tage aus dem nationalen Pokal und dem Uefa-Cup ausgeschieden und hat eine fast aussichtslose Situation in der Meisterschaft. Jol versuchte es möglichst mannhaft zu kommentieren: "Wir sind natürlich sehr enttäuscht. Mit etwas Glück hätten wir auch noch mehr Tore erzielen und ins Finale kommen können. Aber wir haben ein heroisches Gefecht geliefert."
Vermutlich werfen die HSV-Fans beim nächsten Mal keine Papierkugeln mehr vors eigene Tor.
Hamburger SV - Werder Bremen 2:3 (1:1)
(Hinspiel 1:0)
1:0 Olic (12.)
1:1 Diego (29.)
1:2 Pizarro (66.)
1:3 Baumann (83.)
2:3 Olic (87.)
Hamburg: Rost - Demel (62. Boateng), Gravgaard, Mathijsen, Jansen (77. Aogo) - Jarolim, Alex Silva (72. Benjamin) - Pitroipa, Trochowski - Petric, Olic. - Trainer: Jol.
Bremen: Wiese - Fritz, Mertesacker (53. Prödl), Naldo, Boenisch - Baumann - Frings, Özil - Diego - Pizarro (90. Niemeyer), Rosenberg (62. Hugo Almeida). - Trainer: Schaaf.
Schiedsrichter: Frank De Bleeckere (Belgien)
Zuschauer: 51.000 (ausverkauft)
Gelbe Karten: Alex Silva (2), Boateng (4) Jarolim (2) / Diego (3), Hugo Almeida (3), Naldo