Werders Uefa-Cup-Pleite Nacht der Tränen
Die linke Hand steckte tief in der Tasche des Trainingsanzuges. Die rechte hielt sich an der zucker- und koffeinfreien Variante eines populären Kaltgetränkes fest. Dazu flüsterte er nur. Und senkte immer wieder demütig den Kopf.
Das sollte Tim Wiese sein?
Der Modellathlet, Überflieger, Hubschrauberhobbypilot und Bald-Nationaltorwart, der gerade in Pokalspielen jeder Art viel mehr hält als das, was gemeinhin zu halten ist?

Werder-Profis Frings und Wiese: Erste Titelchance verspielt
Foto: APDoch als der 27-Jährige weit nach Mitternacht aus den Katakomben des Sükrü-Saracoglu-Stadions in Istanbul schlurfte, spiegelte sich in Gesicht und Mimik viel von der Enttäuschung wider, die Werder Bremen an diesem Abend erlitten hatte. "Wir dürfen den Kopf nicht hängen lassen", stammelte der 1,93-Meter-Mann - tat aber genau dies.
Aus gutem Grund: Wiese wusste nur zu genau, dass er von den Augen der versammelten deutschen Fußball-Prominenz inklusive Bundestrainer Joachim Löw eine kleine bis mittelschwere Mitschuld an einer gewiss verdienten, aber vielleicht doch vermeidbaren 1:2 (1:1, 1:1)-Niederlage nach Verlängerung gegen Schachtjor Donezk trug.
Denn im Grunde war dieses an spielerischen Finessen so arme Finale schon auserkoren, erst mit dem Entscheidungsschießen vom Elfmeterpunkt beendet zu werden, als der Brasilianer Jadson plötzlich frei stand und abzog. "Das darf nicht passieren", sagte Wiese später. Der extrovertierte Tormann hätte auch ergänzen können, dass er diesen Schuss eines Mannes, der großer Fan von Lothar Matthäus ist und seinen Sohn deshalb "Mateus" genannt hat, an guten Tagen auch hätte halten können. Aber weil bei Werder so wenig an diesem Tag passte, bahnte sich dieser Ball den Weg ins Netz.
Es war die Entscheidung in Minute 97, nachdem in der regulären Spielzeit ebenfalls zwei Brasilianer getroffen hatten. Dem feinen Lupfer von Luiz Adriano (25.) folgte der haltbare Freistoß von Naldo zum 1:1 (35.). Die alleinige Schuld am späteren 1:2 wollten weder die Mitspieler ihrem Schlussmann zuschreiben noch Wiese sich selbst geben. "Mit ein bisschen Glück kann ich schneller runtergehen. Wenn ich einen Meter weiter hinten gestanden hätte, hätte ich mehr Reaktionszeit gehabt."
Der Konjunktiv, das weiß er, zählt auch für einen Keeper nicht viel. Und es passt zu Werders Wankelmut in der Achterbahnfahrt durch die Spielzeit 2008/2009, dass ausgerechnet ihr Zuverlässigster, der im DFB-Pokal-Halbfinale in Hamburg zum Helden aufstieg, ziemlich einsam wirkte.
"Das war nicht das wahre Werder. Das war nicht das Werder, das man kennt", beschied Bremens Geschäftsführer Klaus Allofs, "einige Spieler waren nicht auf der Höhe, einige waren nervöser als gedacht." Namentlich erwähnte der designierte Vorstandschef den Namen des Deutsch-Türken Mesut Özil, der ausgerechnet in Istanbul seine Fans, seine Familie enttäuschte. Ohne den gesperrten Diego schien die Bürde zu groß, die stockende Bremer Offensive ordnen und gestalten zu müssen. "Für Mesut muss dieses Spiel zu seiner Entwicklung gehören", befand Allofs.
Werders Boss wirkte gefasst - weil er wusste, dass spielerische Größen wie der am Knie operierte Abwehrchef Per Mertesacker, Stürmer Hugo Almeida und vor allem Superstar Diego nicht zu ersetzen sind. "Uns haben die Spieler gefehlt, die im Uefa Cup den Unterschied ausgemacht haben", sagte Mertesacker, ehe er auf Krücken aus dem Stadion humpelte. Für den Nationalspieler sei das Verpassen der beiden Finalspiele "der bitterste Moment der Karriere".
Auch Diego wirkte - in blauer Jeans, schwarzem Hemd und offenem Sakko - bekümmert. "Es war schrecklich, es war hart für mich." Der 24-jährige wechselwillige Brasilianer, dessen Zukunft noch ungeklärt ist, stellte fest: "Donezk war in Details besser, sie haben in der Offensive besser gespielt."
Doch bei den vom Oligarchen Rinat Achmetov großzügig geführten Club aus der Bergarbeiterstadt zauberte halt vorne ein brasilianisches Quintett - bei den sich aus dem Spielbetrieb finanzierenden Bremern zauberte niemand. "Ich bin der festen Überzeugung, dass wir gewonnen hätten, wären wir komplett gewesen", erklärte Allofs, das sei das Ärgerliche. Bremens Baumeister gestand in der Nacht der Tränen - Naldo und manch einer der Kollegen schluchzten bei der Siegerehrung bitterlich - aber auch ein: "Es war nicht unser Tag. Die Ausfälle in der Kombination mit der hohen Belastung haben wir nicht wegstecken können."
Die Frage ist nur, wie die grün-weiße Entourage diesen Rückschlag auf internationaler Bühne verkraftet. Eigentlich spielt Werder nun noch zwei Endspiele: Am Samstag das Meisterschaftsfinale beim VfL Wolfsburg, am 30. Mai (20 Uhr, Liveticker SPIEGEL ONLINE) das Pokalfinale gegen Bayer Leverkusen.
Dass Bremen den Ausgang beim Kampf um die Schale beeinflusst, glaubt selbst Daueroptimist Allofs nicht. "Die Wolfsburger haben vor dem Fernseher gesessen und die Beine hoch gelegt. Und als es Verlängerung gab, haben sie sich die Hände gerieben. Wir müssen sehen, wie wir das kräftemäßig auffangen können: Wir sind in Wolfsburg nur Außenseiter." Was nicht heißen solle, dass man ins östliche Niedersachsen nur einen Ausflug mache, um den neuen Deutscher Meister zu bewundern.
Was heißt das danach für Berlin? "Wir müssen die Mannschaft wieder in Gang bringen", verkündete Trainer Thomas Schaaf und forderte: "In Berlin müssen wir uns selbst gerecht werden, in Istanbul haben wir das nicht besser hingekriegt."
Wenn Schaafs Horde das indes auch am 30. Mai nicht besser hinbekommt, dann hat sich Werder in dieser Saison verzockt. Allen Fokus auf die Cup-Wettbewerbe zu richten und die Liga schleifen zu lassen, war nur richtig, wenn ein Titel herausspringt - und damit die Hintertür zur neuen Europa League aufgeht, dem Nachfolger des nach nunmehr 38 Jahren abgeschafften Uefa Cups.
Bislang haben die Bremer nur verpasst, dort als historisch letzter Sieger geführt zu werden. Platzen die Titelträume auch in Berlin, steht Werder unweigerlich als ein Verlierer dieser Saison da.