WM-Überraschungsteam Russland Hinten Klasse, vorne Glück

Russlands Spieler feiern
Foto: YURI CORTEZ/ AFPDas Gerücht, die russische Nationalmannschaft sei ziemlich schlecht darin, Fußball zu spielen, hält sich hartnäckig. Die Erwartungen an die Sbornaja waren vor der WM gering, die Siege gegen Saudi-Arabien (5:0) und Ägypten (3:1) mit der Schwäche des Gegners erklärt, das 0:3 gegen Uruguay, dem ersten wirklich starken Kontrahenten, schien das zu bestätigen. Dann kam das sensationelle Weiterkommen gegen Spanien. Russland steht deshalb im Viertelfinale, wo es am Abend auf Kroatien trifft (20 Uhr, Liveticker SPIEGEL ONLINE; TV: ARD).
Ist das Team am Ende viel besser als sein Ruf? Die Antwort lautet: Ohne Ball ist es das. In Ballbesitz eher nicht.
Beim Sieg im Elfmeterschießen gegen Spanien am vergangenen Sonntag spielte Russland, anders als in der Gruppenphase, nicht mit einer Viererkette in der Abwehr, sondern mit fünf Verteidigern. Davor reihten sich vier Mittelfeldspieler ein, ganz vorne stand ein Stürmer. Wobei vorne nicht ganz zutrifft. Praktisch spielte Russland nämlich ohne Angreifer in einer Art 5-4-1-niemand-Formation.
Diese barg zwei Besonderheiten. Erstens: Stürmer Artem Dzyuba orientierte sich fast durchgängig an Spaniens Sechser, Sergio Busquets. Entweder er nahm Busquets in Manndeckung, oder er kappte Passwege zu ihm. Busquets ist der wichtigste Spieler im spanischen Aufbau, die Maßnahme daher einleuchtend. Zweitens: Die vier russischen Mittelfeldspieler formierten sich meist sehr eng, sie standen viel weniger breit als die Fünferkette in der Abwehr.
So versperrte Russland das Zentrum sehr effektiv. Spanien kontrollierte zwar den Ball, aber das russische Team kontrollierte das Spiel. Weil sich allein auf den Flügeln Räume ergaben (und zwar auch nur auf mittlerer Feldhöhe; denn auf Höhe des Strafraums waren ja noch Russlands Außenverteidiger), hielten sich Spaniens Spieler meist außerhalb der russischen Formation auf: in der eigenen Abwehrreihe, auf die Russland kaum Druck ausübte, oder auf den Seiten. Dort konnten sie dann von Russlands Akteuren zugeschoben und isoliert werden.
Was in solchen Situationen blieb, war der Versuch einer Einzelaktion, einer Kombination in Unterzahl oder einer frühen Flanke in den Strafraum. Alles nicht wirklich erfolgversprechend. Spanien wählte meist eine letzte Variante: Den Pass zurück in Richtung eigene Hälfte. Neuer Anlauf. So kamen die Spanier auf ihre 1114 Pässe.
Nach Balleroberungen mussten Russlands äußere Mittelfeldspieler weite Wege nach vorne machen. Das erfordert viel Aufwand, die Sbornaja lief in jedem Spiel deutlich mehr als der Gegner, nur gegen Uruguay nicht, da spielte sie allerdings auch ab der 36. Minute in Unterzahl.
Noch kein Gegentor aus dem Spiel heraus
Aufwand und gute Taktik machen jedoch aus ordentlichen Verteidigern keine Weltklassespieler. Es war also nur logisch, dass die Mannschaft gegen Spanien dennoch Chancen zuließ. Ein sehr gut aufgelegter Torhüter Igor Akinfeev ließ sich allerdings nur einmal bezwingen, nach einem Standard, vom eigenen Mitspieler. Russland hat damit bei dieser WM weiterhin kein Gegentor aus dem Spiel heraus kassiert, alle fünf Treffer fielen nach ruhenden Bällen.
Das Team verteidigt aber nicht nur gut, es schießt auch Tore, neun in vier Spielen. Allein Belgien gelangen mehr Treffer (zwölf). Meist versucht es die Mannschaft über lange Bälle in Richtung des 1,96 Meter langen Stürmers Dzyuba. Dieser soll den Ball verlängern oder behaupten. Für den Fall, dass das nicht gelingt, schieben sich die russischen Mittelfeldspieler in Dzyubas Richtung, um Abpraller aufzusammeln. Gegen eine körperlich robuste Mannschaft wie Viertelfinalgegner Kroatien ist das genauso wenig erfolgsversprechend wie Russlands Plan B, der Angriffe über die Außen und hohe Flanken vorsieht.
Lange Bälle, Flanken, Standards - man hat schon Teams erlebt, deren Offensive etwas cleverer gewesen ist. Ein so effizientes Team wie Russland aber hat man noch nicht erlebt, zumindest nicht bei dieser WM. Von ihren 37 abgegebenen Schüssen haben die Russen neun verwertet. Das entspricht einer Quote von 24,3 Prozent. Ein abenteuerlich guter Wert. Der Durchschnitt bei dieser WM liegt bei 10,1 Prozent.
Das lässt zwei Rückschlüsse zu. Der eine: Russlands Stürmer sind vor dem Tor die mit Abstand coolsten der Welt. Das hätten sie dann allerdings bis zu diesem Turnier ziemlich gut versteckt. Der andere: Russland hat im Angriff viel Glück gehabt. In diesem Fall würde sich die Chancenverwertung dem Durschnitt angleichen, je mehr Spiele absolviert werden. Anders gesagt: Das Glück wird Russland verlassen.
Es ist also ziemlich wahrscheinlich, dass sich die Sbornaja sehr bald aus dem Turnier verabschiedet. Auch gegen Kroatien geht sie als klarer Außenseiter ins Spiel. Sie wird es den Kroaten aber sehr schwer machen, Chancen zu kreieren. Und das sollte man durchaus würdigen.