Russlands Sieg über Spanien Der heiserne Vorhang

Russische Spieler nach der Partie gegen Spanien
Foto: CARL RECINE/ REUTERSDie Leninstatue vor dem Luschniki-Stadion in Moskau richtet ihren Blick weg von der Arena. Vielleicht schaut der Gevatter weit in die Ferne, über Moskau hinaus nach Sotschi ans Schwarze Meer, dort, wo das russische Team am Samstag sein WM-Viertelfinale bestreiten wird.
Ja, Russland, diese Mannschaft, der vor dem Turnier niemand so recht etwas zugetraut hat, steht unter den besten Acht, Spanien, der große Favorit, muss die Heimreise antreten. Es hat bei dieser WM schon Überraschungen gegeben - was man in Deutschland wirklich niemandem erzählen muss - , aber dieser Erfolg des Teams von Trainer Stanislaw Tschertschessow über die Meister aus Spanien streift die Sensation.
Dass Lenin dort oben auf seinem Podest überhaupt nach Spielende noch stand, ist schon verwunderlich, denn das Stadion hinter ihm war zuvor in seinen Grundfesten erbebt. Laut war es schon während der ganzen Partie gewesen, sehr laut dann in der Verlängerung. Aber als Torwart Igor Akinfeew den entscheidenden spanischen Strafstoß im Elfmeterschießen mit der Fußspitze geradezu artistisch aus dem Tor holte, da entrang sich dem Publikum in der Arena ein Jubelschrei, den wahrscheinlich noch die Kosmonauten auf der ISS-Raumstation hören konnten.
"Die Fans sind der Star"
Akinfeew, anschließend von der Fifa zum Man of the Match gekürt, wollte diese Auszeichnung denn auch gar nicht annehmen: "Die Fans haben das heute verdient, sie sind der Star", sagte er kurz und bündig. Überhaupt hatte der Keeper, seit mehr als zehn Jahren die Nummer eins im russischen Tor, keine große Lust auf die Presse. Nach nur einer Minute verzog er sich wieder, die russischen Spieler haben offenbar nicht vergessen, wie geringschätzig ihre Aussichten auch im eigenen Land bewertet worden waren.

Russland besiegt Spanien: Tausend Pässe, aber schwache Nerven
120 Minuten hatten sich die russischen Spieler gegen die Passmaschine Spanien gewehrt, meistens mit dem einfachsten Mittel. Sie stellten sich zu elft vor ihr eigenes Tor und ließen den Gegner herumspielen. Gary Lineker, Englands Fußball- und Twitterikone, spottete schon während des Spiels, die Russen hätten einen Eisernen Vorhang um ihren Strafraum herunter gelassen. Selbst als sie durch das frühe Eigentor von Sergej Ignashevich 0:1 in Rückstand geraten waren, änderten sie ihre Taktik nicht.
Russia have pulled an iron curtain across their penalty area.
— Gary Lineker 💙💛 (@GaryLineker) July 1, 2018
"Die Spanier sind in so vielem besser als wir", sagte Trainer Tschertschessow anschließend, "wir mussten uns einen Plan überlegen, dagegen anzukommen". Und der Plan hieß: Die Spanier ihr Passspiel machen lassen bis zum Strafraum, aber ab da gibt es keinen Zutritt mehr. Und diese hochüberlegen agierende spanische Mannschaft fand den Schlüssel für das Tor dieser Festung einfach nicht. Je länger die Partie dauerte, je länger sie nach dem Handelfmeter von Artem Dzyuba 1:1 stand, desto denkbarer wurde das Undenkbare: Dass Russland hier gewinnen könnte.
Spanier wurden immer mutloser
Es war so ein Spiel, dessen Faszination sich wohl nur im Stadion selbst erschließt, mit der brodelnden Atmosphäre, wenn man den Blick aufs ganze Spielfeld hat, auf dem sich 21 Spieler zumeist in einer Hälfte aufhielten und elf russische Spieler alles, was sie hatten, daran gaben, den eigenen Sechzehnmeterraum zu schützen. Jeder Ball, der herausgeköpft, herausgeschlagen wurde, wurde gefeiert wie ein Cupsieg. Die Fans schrien, bis sie heiser waren. Und das Elfmeterschießen rückte immer näher.

Stanislaw Tschertschessow
Foto: Marius Becker/ dpaDie Spanier wurden mutloser und mutloser, die Russen rannten sich wieder die Seele aus dem Leib, angetrieben von Leidenschaft. Die Laufleistungen des Teams sind erstaunlich, mehr sollte man wahrscheinlich dazu gar nicht sagen. Tschertschessow kündigte an, dass das noch nicht das Ende der Fahnenstange sei: "Was die Fitness angeht, denke ich, dass wir noch ein bisschen zulegen können." Ob er das ernst meinte, lässt sich bei dem stets etwas brummig wirkenden Trainer schwer sagen.
Ohnehin ließ er sich auch von den fragenden Journalisten nicht dazu verleiten, die große Triumphgeste aufzusetzen. "Meine Gefühle sind ganz einfach zu beschreiben: Ich denke schon wieder an das nächste Spiel." Und weiter: "Ich hoffe, wir haben noch ein paar Partien, dafür muss ich mir meine Emotionen ja noch aufheben."
Nur einmal ging der Coach so richtig aus sich heraus, und dabei ging es nicht um seine Elf, sondern um das Team von Joachim Löw. "Das Ausscheiden von Deutschland, das hat mich wirklich aufgeregt", sagte er. Schließlich sei "Joachim Löw ein großartiger Freund, mein Sohn ist in Deutschland geboren, ich habe eine besondere Beziehung zu diesem Land." Tschertschessow sagte: "Ich kann nicht glauben, was da passiert ist."
So geht es vielen seiner Landleute mit der russischen Mannschaft derzeit auch.