Zum Tod von Rudi Michel Stimme des deutschen Fußballs

40 Jahre am Mikrofon: Reporterlegende Rudi Michel moderierte fünf Endspiele bei Fußball-Weltmeisterschaften, er war für viele Fans die Moderatorenstimme des deutschen Fernsehens. Am Montag ist Michel im Alter von 87 Jahren gestorben.

Es sind Sekunden, die eine ganze Nation in Atem halten. Als der Lederball, den der englische Stürmer Geoff Hurst in der Verlängerung des WM-Finales aus der Drehung abschießt, von der Latte senkrecht herunterprallt, von dort aus dem Tor springt und vom Kölner Wolfgang Weber über das Tor geköpft wird, ist die Ungewissheit groß. Tor oder nicht Tor? Das fragen sich an diesem 30. Juli 1966 die 97.000 Zuschauer im Londoner Wembley-Stadion und Millionen an den TV-Geräten.

Kommentator Rudi Michel ist nun gefordert – und fasst diese bangen Sekunden spannend zusammen: "Hei! Nicht im Tor! Kein Tor!", sagt er sofort, doch als der Schweizer Schiedsrichter Gottfried Dienst zu seinem sowjetischen Linienrichter Tofik Bachramow läuft, ahnt Michel schon Böses: "Oder doch? Jetzt, was entscheidet der Linienrichter? ....Tor! .... Oh, ist das bitter. Bachramov aus der UdSSR sagt, dass der Ball nicht aus dem Tor von der Unterkante zurückgesprungen ist, sondern dass er hinten im Netz war. Torschütze Hurst. 3:2 für England durch Hurst. Schiedsrichter Dienst hatte den Treffer zunächst nicht anerkannt", kommentiert er diese Szenen, die vor den deutschen Fernsehern ungläubig aufgenommen werden. Und dann: "Das wird nun wieder Diskussionen geben."

Jahrzehnte später, am Ende einer erfolgreichen Karriere, hat Rudi Michel dieses entscheidende 3:2 mal als "die schwierigste Minute in meiner Reporterlaufbahn" bezeichnet. Tausend Dinge rauschten in dieser 101. Minute durch seinen Kopf: "Ich habe daran gedacht, wie ich aus der Situation wieder rauskomme. Haue ich drauf auf den Schweizer Schiedsrichter und den Linienrichter, mache ich die Nation verrückt und hetze sie auf? Oder verweise ich auf die Haltung unserer Mannschaft?" Obwohl auch das abschließende Tor zum 4:2-Sieg der Engländer irregulär war (es waren schon Fans auf den Rasen gelaufen) und die Elf von Bundestrainer Helmut Schön nur Vize-Weltmeister wurde, verzichtete er auf zu starke Kritik und verwies stattdessen auf die Fairness der deutschen Mannschaft um Uwe Seeler. "Obwohl es sehr geschmerzt hat, die Niederlage zu ertragen", so Michel.

Vielleicht illustriert kein Dokument besser die Auffassung, mit der Michel seinen Beruf ausübte. Kritik nur um der Kritik willen, das war seine Sache nicht. Der Mann, der am 2. August 1921 in Kaiserslautern geboren wurde, nahm sich stattdessen lieber zurück, eine Zurückhaltung, die dem damaligen Zeitgeist entsprang. Als Rudi Michel 1948 beim Südwestfunk in Baden-Baden volontierte, war die Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg noch frisch, und die Sportjournalisten reflektierten die eigene unrühmliche Rolle im "Dritten Reich". Unter diesen Umständen ergaben sich verschiedene journalistische Regeln. Nationalismus in der Sportberichterstattung etwa war völlig tabu. Dass der von Michel so geschätzte Radio-Kollege Herbert Zimmermann im mythenreichen WM-Finale 1954 diese selbst auferlegte Zurückhaltung teilweise aufgab und die Tore Rahns und Morlocks so frenetisch bejubelte, brach mit diesem Gesetz – und schlug entsprechend hohe Wellen.

An diesem 4. Juli 1954 saß Michel als Zuschauer auf der nassen Tribüne des Berner Wankdorf-Stadions; die WM war sein erster großer Einsatz. Er war der Radio-Reporter des Wiederholungsspiels gegen die Türkei (7:2), mit dem Deutschland ins Viertelfinale gegen Jugoslawien vordrang. Parallel kommentierte Michel in der Schweiz bereits für das Fernsehen, und in den nächsten Jahren sollte sich herausstellen, dass der Nachwuchsreporter mit diesem jungen Medium besser zurechtkam als altgediente Radioreporter vom Schlage eines Zimmermann. Michel beherrschte die Kunst, tatsächlich nur das Bild zu kommentieren. Eine Fähigkeit, die er vielen Nachfolgern absprach. "Heute sind Entertainer an den Mikrofonen, die gern in Archiven stöbern und dabei allzu oft die Hauptsache, das Spiel in seinem Ablauf zu bewerten, vergessen", kritisierte er 2006 harsch im "Tagesspiegel".

Seine Meinung hatte Gewicht, schließlich wurde er parallel zum Aufschwung des Fernsehens in den sechziger Jahren einer der populärsten Sportjournalisten der Republik. Bald hatten sich die Zuschauer an das Timbre und die Sachlichkeit Michels gewohnt, der neben dem Endspiel von 1966 auch noch die von 1958, 1962, 1974 und 1982 kommentierte. Dazu entwickelte er als Sportchef des SWF (1962-1988) auch noch das hintergründige Magazin-Format "Sport unter der Lupe", das 2000 zu seinem großen Bedauern eingestellt wurde. In der Zeit seines "Unruhestandes" (Michel) nach 1988 kümmerte er sich häufig um die Aufbereitung der Fußballgeschichte.

Am Montag ist der Mann, der mit seinen Fußballreportagen Rundfunkgeschichte schrieb, im Alter von 87 Jahren in Baden-Baden gestorben.

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