FUSSBALL Gefährliches Pressing
Louis van Gaal hat gerade Jürgen Klopp beleidigt. Die Journalisten im Presseraum des Dortmunder Stadions merken es nicht. Der Pressesprecher von Borussia Dortmund merkt es nicht. Die Kameraleute merken es nicht. Eigentlich merkt es nur Jürgen Klopp.
Der FC Bayern hat soeben 5:1 gegen Klopps Team gewonnen. Zur Halbzeit stand es noch 1:1. Als van Gaal gefragt wird, warum seine Mannschaft erst in der zweiten Halbzeit gut gespielt habe, sagt er, seine Spieler hätten vorher nicht auf ihn gehört. Dabei habe er ihnen genau erklärt, wie die Dortmunder heute spielen würden.
Mit anderen Worten, die Taktik des Kollegen Klopp war vorhersehbar.
Jürgen Klopp, der bis dahin ruhig und etwas gedankenverloren in den Saal geschaut hat, hebt den Kopf und sagt: »Na, das glaube ich ja nicht.«
Van Gaal tut so, als habe er das nicht gehört, und Klopp redet jetzt von seiner Mannschaft. Irgendwie geht die Sache unter.
Es war viel los in den letzten Wochen bei Bayern München. Die Mannschaft startete so schlecht wie seit 43 Jahren nicht mehr in die Saison. Es gab Ärger mit Franck Ribéry. Der Flügelspieler wollte zu Real Madrid und durfte nicht wechseln. Etwas später sagte er über van Gaal, dass zum ersten Mal der »Kontakt zu einem Trainer nicht positiv« sei. Ende August holte der Verein Arjen Robben. Einen Niederländer von Real Madrid, der 24 Millionen Euro kostete.
Heute gegen Borussia scheint sich alles zu fügen. Robben hat gut gespielt, Ribéry hat nach seinem Freistoßtor van Gaal umarmt, die Dortmunder konnten einem in der zweiten Halbzeit leid tun. Es wird in den kommenden Wochen einige solcher Momente geben. Klare Siege im DFB-Pokal, gegen Maccabi Haifa, schöner Fußball wie gegen Juventus Turin. In diesen Momenten scheint van Gaal genau der Richtige zu sein. Ein Fachmann, der ein Team formt, ein Fußballexperte, der eine Vereinsmannschaft führen kann, der Anti-Klinsmann.
In anderen Momenten aber verlieren die Bayern gegen Hamburg, schaffen nur ein Unentschieden gegen den Tabellenvorletzten Köln und haben unzufriedene Stürmer wie Luca Toni und Mario Gomez, die van Gaal nicht aufstellt. Die Bayern bleiben ein Rätsel. Sie stehen auf Tabellenplatz acht, ihr Kader ist fast 300 Millionen Euro wert.
Tabellenplatz acht hätte man vermutlich auch billiger haben können. Und vermutlich hätte man dafür auch nicht Louis van Gaal, 58, holen müssen. Einen Mann, der nach Siegen seiner Mannschaft nicht »wir« sagt, sondern »ich« und nach Niederlagen nicht »ich«, sondern »die Mannschaft«.
Es gibt vermutlich nicht viele Menschen, die so viel über Louis van Gaal nachgedacht haben wie Edwin Winkels. Er arbeitet für »El Periódico«, eine Zeitung aus Barcelona. Van Gaal war einige Jahre Trainer beim FC Barcelona. Winkels hat ihn in dieser Zeit beobachtet und ein Buch über van Gaal geschrieben. »De eenzame kampioen« hat er es genannt: der einsame Champion.
Wenn Winkels von seinen spanischen Sportkollegen gefragt wird, ob viele Holländer so seien wie Louis van Gaal, so streng, so humorlos, so überheblich, sagt Winkels: »Nein, er ist kein typischer Holländer, seinem Charakter nach ist er eher Deutscher.«
Barcelona war der letzte große Verein, den van Gaal trainiert hat, von 1997 bis 2000 und dann noch mal für acht Monate bis Januar 2003. Der Manager der Bayern, Uli Hoeneß, hätte gern, dass die Münchner ein bisschen wie der Champions-League- Sieger Barcelona spielen. Schnell, modern, berauschend. Van Gaal soll das erreichen, er soll die Bayern, die immer ein bisschen langweilig agierten, in den FC Barcelona verwandeln. Eine neue Ära soll van Gaal beginnen.
Es ist nicht sicher, ob das funktionieren wird. Van Gaal ist ein sehr guter Trainer, viele sagen, er sei einer der besten, die der FC Barcelona je hatte - viel mehr sagen aber, dass er auch der unbeliebteste sei.
»Er versteht eine Menge von Fußball, keine Frage«, sagt Winkels über van Gaal. Am Anfang waren sie in Spanien genauso euphorisch wie die Bayern heute. Van Gaal stand für Erfolg, für Angriffsfußball, für eine neue Ära. »Aber die Stimmung kippte schnell. Er duldet nur einen Star in der Mannschaft. Sich selbst.«
Van Gaal ist fleißig, pedantisch, korrekt. Er vergisst keinen Geburtstag, auch nicht den der Spielerfrauen oder des Zeugwarts. Beim Mannschaftsfoto legt er fest, wer wo sitzt, und wer bei seinen Trainingseinheiten nicht konzentriert ist, wird einen Mann erleben, der sich die Seele aus dem Leib schreit. Bei den Bayern auf dem Trainingsplatz haben Hamit Altintop und Bastian Schweinsteiger das schon mehrmals erlebt. Van Gaal besteht auf festen Essenszeiten, in Bayern hat er sie gerade eingeführt. Er verlangt, dass jeder ordentlich am Tisch sitzt. Das heißt gerade.
Jürgen Klinsmann wollte als Bayern-Trainer, dass die Spieler »aufmachen«. Er wollte den Spielern helfen, ein Freund sein, sie motivieren, sie umsorgen. Van Gaal ist es völlig egal, ob ein Spieler »aufmacht«, es reicht, wenn er zuhört und den Anweisungen folgt. Die Idee heißt Ballbesitz, klare Aufgabenverteilung, Hingabe. Van Gaal sagt jedem Spieler exakt, was zu tun ist und was nicht. Er verlangt, alles für das Kollektiv zu geben, sich ihm unterzuordnen. Wenn er über sich spricht, sagt van Gaal »Cheftrainer«. Nicht »Trainer«.
Louis van Gaal ist in Amsterdam in einem katholischen Haushalt aufgewachsen, der sich sehr calvinistisch benahm. Die van Gaals gingen früh schlafen und standen früh auf. Sie waren fleißige, pflichtbewusste und hart arbeitende Menschen. Die Familie ging am Sonntag mit ihren Kindern in die Kirche. Louis hatte acht Geschwister, er ist der Jüngste. Van Gaals Vater arbeitete in einem Erdölunternehmen. Ein strenger wie gerechter Mann. Seine Eltern waren Respektspersonen. Sie wurden von ihren Kindern gesiezt. Heute siezen van Gaals Töchter ihren Vater.
»Eigentlich wollte ich schon mit 16 Trainer werden. Die anderen schauten auf das Spielfeld, ich schaute, was die Trainer machten«, sagt van Gaal. Er trägt ein blau- gestreiftes Hemd, man spürt den Siegelring, wen er einem die Hand drückt. Vom kleinen Besprechungsraum, den er gerade betreten hat, sieht man die Trainingsplätze hinter der Bayern-Geschäftsstelle. Man könnte darauf Tennis spielen, so gepflegt ist der Rasen.
Van Gaal mag nicht, was über ihn geredet wird. »Natürlich vertrage ich Kritik!«, sagt er. »Ich höre jeden Tag auf meine Spieler und setze um, was sie sagen.«
Wann das letzte Mal?
»Na, zum Beispiel beim AZ Alkmaar, meinem Verein vor den Bayern. Als ich das Team übernahm, spielten sie vertikales Pressing. Das ist gefährlich. Ich lasse diagonales Pressing spielen. Die Spieler wollten das nicht. Ich habe sie also so spielen lassen, wie sie wollten. Dann habe ich die Spiele evaluiert und bewiesen, dass wir unnötige Tore bekommen haben. Danach haben sie so gespielt, wie ich gesagt habe.«
Van Gaal glaubt in diesem Moment wirklich, ein Beispiel dafür gegeben zu haben, dass er Kritik annimmt. Auch in Barcelona sei das so gewesen, sagt er.
»Ich hatte dort Probleme mit Stoitschkow«, sagt van Gaal. Christo Stoitschkow, der bulgarische Stürmer, war ein Held in Barcelona, eigentlich ist er es noch immer. Brillanter Fußballer, undiszipliniert und launisch. »Ich ließ ihn mit der zweiten Mannschaft trainieren. Die anderen Spieler wollten, dass er zurückkommt. So einen Spieler, sagten sie, den brauchen wir.«
Van Gaal holte Stoitschkow zurück und erklärte ihm, dass er sich künftig an die Regeln halten müsse. »Er tat es aber erneut nicht. Darum musste er gehen. Die anderen Spieler haben nichts mehr gesagt.«
Stoitschkow verachtete ihn dafür. Nachdem van Gaal bei Barcelona entlassen worden war, sagte Stoitschkow, er hätte seinen alten Trainer nicht rausgeworfen, sondern ihn im Club belassen: als Kartenabreißer im Stadion.
Van Gaal hat nie ein Geheimnis daraus gemacht, dass er keine Stars braucht. Stoitschkow, der Argentinier Riquelme, der Brasilianer Rivaldo, der Portugiese Figo, jetzt Ribéry, Gomez, Toni, mit allen hatte er Ärger. Wer sich nicht unterordnet, bekommt ein Problem. Kaum einer weiß das besser als Bryan Roy.
Roy kommt aus einem großen Gebäude nicht weit vom Amsterdamer Bankenviertel. Es regnet. Roy hat mehrere Jahre unter van Gaal trainiert. Heute betreut er im Auftrag von Ajax Amsterdam Besuchergruppen des Hauptsponsors. Er beantwortet Fragen, gibt Autogramme und erzählt von früher, als er eines der größten Talente im holländischen Fußball war.
»Ich hatte Probleme mit van Gaal, sehr große Probleme. Aber er ist einer der besten Trainer, die ich jemals hatte«, sagt er.
Roy spricht von van Gaal, wie es Schüler tun, die nach dem letzten Schultag zurückblicken und plötzlich dem strengsten Lehrer dankbar sind. Roy war 21, als van Gaal die erste Mannschaft übernahm. »Es wurde alles anders. Du kannst seinen Ehrgeiz spüren, den Enthusiasmus. Jedes Training ist ein Ereignis. Er brüllt, motiviert. Eine Show, wirklich eine Show.«
In der ersten Zeit lief es gut für Roy. Er war Teil einer Mannschaft, die in die Geschichte eingehen sollte. Van Gaal formte aus einem jungen Haufen unbekannter Spieler ein Team, das den Fußball auf den Kopf stellen sollte. Edwin van der Sar, Frank de Boer, Edgar Davids, Dennis Bergkamp - allesamt spätere Weltstars. Roy war ein Teil davon. 1992 gewannen sie den Uefa-Pokal. Dann meldete sich der AC Florenz. Sie boten Bryan Roy viel Geld. Die Chance seines Lebens.
»Ich durfte nicht gehen«, sagt Roy. Er nahm das damals van Gaal sehr übel. Roys Leistungen ließen nach. Ein paar Monate später verlor er seinen Platz im Team, van Gaal ließ ihn in der zweiten Mannschaft spielen. Luca Toni bei den Bayern macht gerade die gleiche Erfahrung. Roy verließ Ajax, ging nach Foggia, später in die Premier League und zur Berliner Hertha.
Aus der großen Karriere ist für Roy nichts geworden, aber er hat sich entschieden, van Gaal dafür nicht zu hassen. Er hätte sich ihm unterordnen müssen, sagt Roy. Roy arbeitet heute als Jugendtrainer bei Ajax. Roy hat sich angewöhnt, seine Spieler bis ans Limit zu fordern. Er schreit beim Training, schimpft und macht stets unmissverständlich klar, wer hier das Sagen hat.
Bryan Roy sagt heute, dass eine gute Mannschaft keine selbstverliebten Stars braucht. Ordnung, Disziplin, die Idee dahinter, das alles sei viel wichtiger. Es klingt, als spräche da van Gaal. »Ich bin ein bisschen wie er geworden«, sagt Roy.
Van Gaal fühlt sich wohl in München. »Ich trainiere sehr gern in Deutschland, denn in Deutschland ordnen sich die Spieler unter. Sie machen, was man ihnen sagt. In Holland denken die Spieler viel mehr über das Team nach. Auch über die Taktik. Das ist nicht gut. Das ist meine Aufgabe.« Für van Gaal haben Spieler in erster Linie Funktionen, dann erst Talente. Er sagt immer wieder, dass er keine Stars in seiner Mannschaft braucht. Es gibt nicht viele Trainer, die das sagen.
Das Problem ist nur, dass Fans den Fußball nicht wegen der Taktik, sondern wegen der Stars lieben. Spieler wie Maradona, die in einem WM-Spiel ein halbes Dutzend Engländer ausspielen und den Ball ins Tor schießen. Kein Taktikkonzept der Welt sieht das vor. Spieler wie Rivaldo, die einen Fallrückzieher außerhalb des Strafraums ansetzen und treffen. Spieler wie Ribéry, die Gegner nicht nur aussteigen lassen, sondern sie mit dem Ball am Fuß entwürdigen. Fans bewundern Spieler, nicht Trainer. Van Gaal fällt es schwer, das zu akzeptieren.
Bayern München hat sich mit Louis van Gaal jemanden geholt, der nicht zweifelt. Ein Verein, dem gerade die Identität entgleitet, braucht vermutlich so etwas: Führung, eine harte Hand. In den letzten Jahren hat der FC Bayern nach und nach seine Siegesgewissheit verloren. Erst in Europa, zuletzt auch in Deutschland.
Van Gaals Selbstbewusstsein reicht für den ganzen Club. Bei seinem vorigen Verein, dem AZ Alkmaar, konnte er alles bestimmen, man unterwarf sich van Gaal und hatte Erfolg. Ein europäischer Spitzenclub ist Alkmaar nicht geworden, in der Champions League spielt der Club kaum eine Rolle. Ein großer Trainer aber muss zu einem Spitzenclub, zu einem Verein wie Manchester, Chelsea, Madrid, Bayern. Alkmaar sollte nicht das Ende sein. Vielleicht ist van Gaal der Erlöser für den FC Bayern.
Aber ist Bayern nicht auch die Rettung für ihn? Seine letzte große Station?
Van Gaal mag die Frage nicht. »Was muss ich noch beweisen? Nichts. Ich habe viele Titel geholt«, sagt er.
Er sitzt stumm da, denkt nach, lässt die Frage im Kopf kreisen. Nein, Bayern könne doch gar nicht seine Rettung sein. »Wenn Sie nur das sportliche Abschneiden in Europa in den letzten Jahren nehmen - dann ist Bayern München derzeit kein großer Verein«, sagt Louis van Gaal.
Er ist gekommen, um das zu ändern.
JUAN MORENO