Göttliche Gabe
Die Hände des Hünen, ausladend wie Delfter Frühstücksteller, fallen sofort auf. Aber Erhard Wunderlich schwört auf seine Augen: »Ich besitze die göttliche Gabe, daß ich Augen habe, die mehr sehen als die Augen der anderen.«
Wenn der Riese Wunderlich nach links guckt, wirft er nach rechts, sieht er nach rechts, schmeißt er den Ball nach links. »Ich habe ein Handballauge«, doziert der Torjäger aus Gummersbach. »So etwas ist zum Teil angeboren, zum Teil antrainiert.«
In 90 Länderspielen erzielte er 300 Tore für die Bundesrepublik. Von Wunderlichs Pranken und Pupillen hängt es derzeit beim Turnier in Holland ab, ob die Bundesdeutschen 1986 in Los Angeles um Olympiamedaillen kämpfen dürfen. Weil die Bundesequipe bei der letzten Weltmeisterschaft 1982 nicht einmal im eigenen Land unter die ersten sechs Mannschaften kam, trotz der 40 Tore von Wunderlich, muß sie nun bei der sogenannten B-Weltmeisterschaft Erster oder Zweiter unter zwölf Mannschaften werden. Doch die CSSR, am heutigen Montag Gegner der Deutschen, und Spanien, Ungarn und auch die Schweden gelten als gleich stark.
»Wenn wir das nicht packen«, warnt Torjäger Wunderlich, »ist die Bundesrepublik für einige Jahre weg vom Fenster, dann interessiert Handball hierzulande nicht mehr als das Murmelspiel der kleinen Kinder.« Zur Vorbereitung opferte der Deutsche Handball-Bund über 250 000 Mark. 69 Tage trainierte die Wunderlich-Equipe für Olympia.
Eigentlich hätte sich Wunderlich den Nachhilfeunterricht ersparen können. Spanische Klubs wie Barcelona lockten ihn mit Einstandsprämien von 500 000 Mark. Doch Wunderlichs Klub VfL Gummersbach richtete ihm eine Werbefirma ein. So entschied sich der »Riese Timpetu«, wie ihn DDR-Nationalspieler Frank Wahl genannt hat, »für Deutschland die Olympia-Flugtickets zu besorgen«.
Wäre es nach deutschen Lehrgangsleitern gegangen, hätte Wunderlich vielleicht nie in der Nationalmannschaft gespielt. Als er noch in seiner Heimatstadt Augsburg in der Oberliga stürmte, endeten bayrische Lehrgänge für Wunderlich häufig mit vorzeitigem Ausschluß. Er sei zu tolpatschig und zu schwer, beschwerten sich die Verbandstrainer über den 100-Kilo-Mann.
Da half der Zufall. Als der Europacupsieger VfL Gummersbach in Süddeutschland Spielpartner suchte, bot sich Wunderlichs Riege aus der zweiten deutschen Handballklasse an. »Große Fische schmecken uns am besten«, erklärte Wunderlich, damals 19 Jahre alt.
Tatsächlich warf er gegen die Weltklassemannschaft aus Gummersbach neun Tore. Die Meisterequipe siegte nur durch einen Siebenmeter-Strafwurf kurz vor Schluß 23:22. Sofort riefen die Gummersbacher bei ihrem in Montreal weilenden Handballobmann Eugen Haas an und berichteten über den »langen Lulatsch mit den Polypenarmen«, so Trainer Rolf Jäger.
Haas fragte zurück: »Ist der verwandt mit dem ehemaligen Nationalspieler Heinz Wunderlich?« Jäger bestätigte, daß Erhard der Sohn ist. Haas: »Sofort nehmen, den Kerl, wenn der nur annähernd so hart wirft wie der Vater, wird er recht.«
Wunderlich, der Wert darauf legt, daß er 2,05 Meter mißt, statt 2,04 Meter, wie es in den Akten vermerkt ist, stieg zum richtigen Zeitpunkt auf. Die Nationalmannschaft betreute der Jugoslawe Vlado Stenzel als Bundestrainer; er schätzte besonders groß gewachsene Spieler. Stenzel: »Es ist leichter, lange Spieler beweglich zu trainieren, als kleine Spieler groß zu machen.«
Schon drei Monate nach dem Wechsel von Augsburg nach Gummersbach setzte Stenzel Wunderlich als Nationalstürmer ein. Nach 19 Länderspielen gehörte »Sepp«, wie ihn die Nationalspieler wegen seiner bayrischen Herkunft nannten, mit 45 Treffern bereits zu den erfolgreichsten Torschützen der Bundesrepublik. 1978 halfen Wunderlich-Tore den Deutschen, Weltmeister zu werden.
Vier Jahre später bei der Titelverteidigung im eigenen Land bot Stenzel ("Ich brauche junge und hungrige Spieler") nur noch Wunderlich von den Stars der Weltmeister-Equipe auf. Solange alles gutging, klagte Torjäger Wunderlich nicht, daß er fast alles allein machen mußte.
Außer Tore zu schießen, führte er auch noch Regie und gab Vorlagen für die Mitläufer. Wenn der Gegner angriff, nahm Wunderlich auf der Bank Platz, weil er sich, so Stenzel, »für Tore ausruhen sollte und in der Abwehr ohnehin nur ein Lamm ist«.
Bis zur Turniermitte besaßen die bundesdeutschen Weltmeister noch Medaillenchancen. Gegen die DDR führten sie mit 14:13, verloren aber dennoch mit 16:19. Da sie anschließend nicht einmal die Schweiz (16:16) bezwangen, rutschten sie auf den siebten Platz ab und büßten das Anrecht auf die Olympiateilnahme vorerst ein.
Wunderlich gab seinem Förderer Stenzel die Schuld am WM-Dilemma. Obendrein inszenierte er eine Abstimmung unter den Nationalspielern über den Trainer. Sie fiel mit 16:0 gegen Stenzel aus. Um den Rausschmiß des Bundestrainers zu vollenden, drohte Wunderlich: »Unter Stenzel bestreite ich kein Länderspiel mehr.«
Einen Nachfolger nannte er auch: »Simon Schobel, denn mit rumänischen Trainern kam ich bisher am besten zurecht.« Schobel stammt aus Siebenbürgen und hatte sich nach 18 Länderspielen für Rumänien bei einer Deutschland-Tournee abgesetzt.
Für die Olympia-Qualifikation in Holland stimmte Schobel beim Abschlußlehrgang alles so ab, daß seine »Schußkanone immer freie Bahn findet«. Schobel ahnte, daß jede gegnerische Mannschaft auf Wunderlich gleich zwei und drei Verteidiger ansetzen wird. »Und zwar brutale Manndeckung, die hängen sich wie Zementsäcke an die Arme vom Sepp und ziehen ihm, wenn nötig, auch die Hosen runter.«