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Leichtathletik Goldschatz für alle

Die Sprinterin Katrin Krabbe kommt mit der Glamour-Rolle, die ihr die Medien zugedacht haben, nicht mehr zurecht.
aus DER SPIEGEL 10/1991

Ob das Mädchen mit den blauen Augen im »Aktuellen Sportstudio« sitzt oder in der »Jörg-Knör-Show«, ob es bei Sat 1 für 5000 Mark Gage den neuen »Sportclub« ziert oder in Leipzig einen »Bambi« als »Shooting-Star des Jahres« bekommt - stets fahren die Fernsehkameras ihre 115 Zentimeter langen Beine rauf und runter.

Und wenn die Blondine bei den Deutschen Meisterschaften vor dem Sprint über 60 Meter die Trainingsanzüge auszuziehen beginnt, verfolgen die Objektive jede Bewegung - bis endlich Katrin Krabbe, 21, im knappen schwarz-roten Einteiler im Startblock kniet.

Ob in Zeitungen oder im TV, das Sportinteresse der Nation fixierte sich in den letzten Wochen derart auf eine Person, daß die Bild-Zeitung Deutschland schon im »Krabbe-Fieber« sah. Seit den Europameisterschaften Ende August im jugoslawischen Split, bei denen sie drei Goldmedaillen gewann, rangeln TV-Shows, Boulevardblätter, Hochglanz-Illustrierte, Werbeagenturen und Sponsoren um Termine in Krabbes Kalender. Allein in der Woche vor den Titelkämpfen notierte ihr Manager 15 Interview- und Fotowünsche.

In der Vereinigungseuphorie des Herbstes hatten die westdeutschen Medien wie auf ein geheimes Zeichen hin eine bis dahin unbekannte Sprinterin aus Neubrandenburg für eine tragende Rolle ausgewählt: Als alle noch vom neuen Wirtschaftswunder träumten, sollte Katrin Krabbe der friedlichen Vereinigung dienen - hatte nicht auch der Aufschwung nach dem Zweiten Weltkrieg mit einem »deutschen Fräulein-Wunder« (Bild) begonnen?

Sie sei eine »Art Nationalsymbol«, meinte das Wall Street Journal angesichts der medialen Annektierung der naiven Schönen aus dem Osten, »das für die ambitionierte Hoffnung eines vereinten Landes steht«.

So wurde das Medienprodukt Krabbe zum Selbstgänger. Zwar lobhudeln Experten dem Laufstil der Sprinterin ("läuferische Offenbarung"), doch können auch ihre bisherigen sportlichen Leistungen die totale Vereinnahmung nicht erklären. Denn anders als Uwe Seelers Kopfbälle oder Boris Beckers Volleys haben ihre Kurzsprints die Massen innerlich kaum gerührt. Als die Fernsehzuschauer ihre »Sportlerin des Jahres« wählten, zogen sie sogar die kühle Steffi Graf der Krabbe vor. Doch fünf Tage später stimmten die Journalisten allein ab - prompt lag Katrin Krabbe vorn.

Während die Deutschen »unseren neuen Goldschatz« (Quick) überschwenglich feiern, macht sich das Ausland bereits lustig über das »reine Medienphänomen« (L'Equipe) Krabbe. Hätte die PDS diesen »Appetithappen für die Westmedien« auf ihren Wahlplakaten genutzt, so lästerte die Zürcher Weltwoche, wäre »sogar Gysi Einheitskanzler« geworden.

Die allzu deutsche Geschichte vom »Aschenputtel zur Goldmieze« (Bild) hatte einen simplen Grund: »Wenn unsere Chefredakteure so lange Beine sehen«, erklärte ein Reporter verdutzten Kollegen das plötzliche Interesse, »flippen die gleich aus.« Und Katrin Krabbe spielte mit, rekelte sich für Kameramänner und Fotografen am Strand oder unter Palmen.

Die bei der EM noch im blauen DDR-Trikot laufende ehemalige Spartakiade-Meisterin hörte so bereitwillig auf die westlichen Keep-smiling-Kommandos, daß ihr Trainer Thomas Springstein, 32, nach anfänglichem Verständnis ("Sie mag es eben, wenn sie im Mittelpunkt steht") bald Kritik am Darstellungsdrang seines Schützlings übte: »Die Dinge drohen ihr über den Kopf zu wachsen.«

Einmal in Gang gesetzt, beließ es die Medienmaschinerie nicht bei der Beschreibung ihres angeblich »makellosen Profils« (Süddeutsche Zeitung). Eigenwillig analysierten die Bunte-Experten die Anatomie der »schnellsten weißen Frau": Wegen ihres »schmalen Beckens« und ihrer »Knabenbrust«, die zusätzliche Maßnahmen überflüssig mache ("muß nicht durch Sport-BH flachgedrückt werden"), sei der Luftwiderstand gering. Zudem würden ihre Füße »wie Abschußrampen« wirken, und auch ihr »kurzer Hals« sei von Vorteil - denn: »Beim Laufen wackelt der Kopf nicht.«

Im Zusammenhang mit »Königin Katrin« war nichts banal genug, um nicht berichtet zu werden. Ein Sexualforscher glaubte gar, ihr Lächeln auf den letzten Metern erklären zu müssen: »Das ist eine Gefühlsebene wie bei einem Orgasmus.«

Aufgebracht über solch »schmalzige« Geschichten, nahm sich der Sportstar aus Mecklenburg vor, »zu lernen, wie Carl Lewis mit den Medien zu spielen«. Doch die angehende Unterstufen-Lehrerin war dabei schnell überfordert, etwa als Bild bei einem »Liebesurlaub in der Türkei« nach dem obligaten Blick durchs Schlüsselloch wissen wollte: »Wer tätschelt denn da ihren Po?«

Um die Berichterstattung besser beeinflussen zu können, überlegt der Krabbe-Clan derzeit, ähnlich wie einst Michael Groß oder Boris Becker, das lukrative Angebot des Boulevardblattes für Exklusiv-Kolumnen anzunehmen.

Als Trotzreaktion auf die ihr bisweilen »unangenehmen« Journalisten tritt sie auf Pressekonferenzen heute schon mal arrogant ("Was soll denn diese Frage?"), zickig ("Was gibt's denn da zu lachen?") oder routiniert-kühl ("Ja, mein Freund heißt Torsten Krentz - es stimmt, ich fahre Mercedes") auf.

Katrin Krabbe hat zu spät erkannt, daß sie die ihr auferlegte Last als öffentliches Eigentum ("Deutschland träumt mit ihr. Ganz Deutschland") nicht verkraften kann. Dabei hätte das Beispiel einer berühmten Vorgängerin im Westen ihr die Mechanismen des Sportgeschäfts durchaus verdeutlichen können. Jutta Heine, in Rom Olympia-Zweite über 200 Meter und ebenso blond wie die Krabbe, hatte schon vor 30 Jahren erkannt, daß die »Leute viel mehr an der Länge meiner Beine interessiert sind als daran, wie schnell diese laufen«.

Und war die Europameisterin Heine damals die »Marlene Dietrich« (Newsweek) der Aschenbahn, so glänzt die Europameisterin Krabbe, die aus dem alten DDR-System mit Kinder- und Jugendsportschule und muffigen Trainingshallen kommt, heute als »Grace Kelly« (Bild) oder »Greta Garbo« (Stern) der gesamtdeutschen Leichtathletik.

Doch der Rummel bringt der Vereinigungsgewinnlerin auch Bonuspunkte ein. Als sie zu Beginn des Jahres zum zweiten Mal den Dopingfahndern des Deutschen Leichtathletik-Verbandes (DLV) davoneilte, wurden in der Öffentlichkeit mehr die Tester kritisiert, die ihr bis auf die Bahamas nachreisen mußten. Selbst DLV-Präsident Helmut Meyer stellte sich vor seine Vorzeige-Athletin.

Meyer kann es sich mit seinem hochgepuschten Mega-Star auch gar nicht verscherzen, weil dieser, so der französische Figaro, »perfekt die Seele verkörpert«, die die angeschlagene deutsche Leichtathletik »beflügeln soll«. Sogar ihr Wunsch nach einem neuen Nationaltrikot war den Funktionären Befehl: Der rote Brustring soll künftig durch schwarz-rot-goldene Streifen ersetzt werden.

Jahrelang waren die westdeutschen Leichtathleten angesichts ihrer Erfolglosigkeit mitleidig verspottet worden. Als jetzt Katrin Krabbe in die positiven Schlagzeilen lief, nahm die frustrierte DLV-Spitze dies gläubig als Signal des Aufschwungs: Durch den Krabbe-Rummel war erstmals seit Jahren die Deutsche Hallenmeisterschaft ausverkauft. Auch die Hallen-Meetings fanden durch den angekündigten Start der deutschen Vorläuferin ungeahnten Zuspruch. Der Karlsruher Meeting-Chef Siegfried König wunderte sich: »Was hier abläuft, ist Wahnsinn.«

Und der Gipfel der Hoch-Konjunktur ist, so Krabbes Manager Jos Hermens, 41, noch längst nicht erreicht. Der Holländer, einer der besten Kenner der internationalen Leichtathletik-Szene, war im März vergangenen Jahres von der Sportartikelfirma Nike nach Neubrandenburg geschickt worden - eigentlich, um dort die 800-Meter-Weltklasseläuferinnen Sigrun Wodars und Christine Wachtel zu verpflichten.

Quasi als Dreingabe bekam Hermens noch die Krabbe und wurde vom Starkult selbst überrascht: »Was in Deutschland momentan passiert, habe ich noch nicht erlebt.« Von Sponsoren könne er für die Sprinterin das gleiche Honorar fordern wie für die Weltstars Ben Johnson oder Carl Lewis: »Ich staune immer wieder.«

Verträge mit Nike, dem Haarstylisten Goldwell und der Modefirma Gerry Weber bringen Krabbe jährlich fast eine halbe Million ein. Zu einem ähnlich hohen Betrag werden sich die Startgagen summieren, die sich die Sprinterin in dieser Saison auf Sportfesten zusammenlaufen wird. Zudem ist sich Hermens sicher, bis Ende des Jahres noch drei Werbeverträge mit Honoraren zwischen 500 000 und einer Million Mark im Jahr abschließen zu können.

Manchmal »schäme« er sich, so der Promoter, über die Differenz zwischen den Gagen für die Krabbe und der ebenfalls von ihm betreuten zweimaligen Europameisterin Grit Breuer - aber »alle wollen nur Katrin«. Noch mehr ärgert sich Springstein, der auch die 400-Meter-Läuferin Breuer trainiert, über die unterschiedliche Behandlung seiner beiden Schützlinge: »Ich dachte immer, bei euch zählt nur Leistung.« Und wenn er besonders wütend ist, philosophiert Springstein gern über die Zeitläufe.

Womöglich sei im Sommer, nach der Weltmeisterschaft in Tokio, schon alles ganz anders. Da habe nämlich Katrin Krabbe gegen die Jamaikanerin Merlene Ottey kaum eine Chance. Dann würden die Medien doch noch auf die eher unauffällige, aber erfolgreiche Grit Breuer umschwenken, »wenn Deutschland ein neues Idol für seine Herrlichkeit braucht«. o

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