DDR-MANNSCHAFT Graue Perlen
In Autrans, einer Filiale des Olympischen Dorfes, schaufelten zwei Skisportler aus Ost- und Westdeutschland einen Pingpong-Ball über das Netz. Plötzlich ließ der DDR-Athlet seinen Schläger fallen wie ein ertappter Schuljunge die Zigaretten-Kippe: Ein Ulbricht-Funktionär kontrollierte den Aufenthaltsraum.
Zum erstenmal waren zu Olympischen Winterkämpfen zwei getrennte deutsche Mannschaften angetreten. In Sichtweite der wachsamen Sportpolitruks vom DDR-Olympiakollektiv verkehrten die Wettkämpfer beider Equipen in Grenoble wie Taubstumme miteinander.
Denn die DDR-Funktionäre litten noch unter einem Schock: Drei Wochen vor Olympia hatte sich wieder ein gehätschelter Star, der Medaillen-Kandidat Ralph Pöhland, nach Westdeutschland abgesetzt (SPIEGEL 5/1968). Kurzfristig siebten die DDR-Sportführer ihr Olympia-Kontingent, Statt 95 durften nur noch 57 Wintersportler nach Grenoble,
Zudem nötigte die Mannschafts-Leitung den DDR-Athleten eine Selbstverpflichtung ab: Erst wenn die Bundesdeutschen die »Agenten-Tätigkeit, der Pöhland zum »Opfer fiel, verurteilen«, dürfen sie wieder mit ihnen sprechen. Auch die leitenden DDR-Funktionäre verweigerten Vertretern der »kapitalistischen Lügenpresse« (so Alfred Heil, Chef der DDR-Presse-Delegation) Interviews jeder Art.
»Nur für unsere Leute«, kommandierte ein Funktionär, nachdem die Chemnitzerin Gabriele Seyfert die Silbermedaille im Eiskunstlauf ersprungen hatte. »Wir müssen sie abschirmen.« Flugs errichteten DDR-Journalisten eine volkseigene Mauer um ihre Kufenkünstlerin. Ein langjähriger Seyfert-Flirt mit dem österreichischen Weltmeister Emmerich Danzer schürte das Mißtrauen,
In ihrer selbstverschuldeten Isolierung wurden freilich die DDR-Sportler auch von ihren Gegnern argwöhnisch beobachtet. Besonders die medaillenverdächtigen Rennrodler in Villard-de-Lans, die von allen anderen Equipen abgeschlossen im Hotel »La Taiga« direkt neben der Rodelbahn kaserniert waren.
Die Konkurrenten muckten auf, als die Medaillenpächter aus der DDR nach mäßigen Trainingsfahrten im zweiten Rennlauf verdächtig gute Zeiten erzielten, Schon 1967 war der mitteldeutsche Rodler Horst Hörnlein bei der Weltmeisterschaft disqualifiziert worden, nachdem er seine Kufen regelwidrig erhitzt hatte. Nun beschwerten sich die Italiener beim österreichischen Präsidenten des Internationalen Rennrodel-Verbandes (FIL) Bert Isatitsch. Der Osterreicher schaltete seinen Stellvertreter Lucian Swiderski aus Polen ein.
Die Rodler versammelten sich zu einer Protestkundgebung in den Räumen der westdeutschen Vertretung. Indessen nahm der Pole mit der Hand eine Kufenprobe an den DDR-Schlitten vor und befand drei als unzulässig erwärmt. Es waren die Einsitzer der drei führenden DDR-Rodlerinnen.
Als der Pole vorsichtshalber Schnee auf die Kufen häufte, zischte es. Eisgraue Perlen zeugten endgültig vom Rennbetrug.
Seit den Olympischen Spielen 1964 in Innsbruck, die als »Olympiade der Lötlampen« in die Rodelgeschichte eingegangen sind, gelten erwärmte Kufen als Disqualifikationsgrund.
Unter spürbarer Pein verfügte Swiderski ("Es ist mir unangenehm, daß die Fahrerinnen einem mir befreundeten Verband angehören") den Ausschluß der Medaillenanwärterinnen Ortrun Enderlein, Anna-Maria Müller und Angela Knösel. Das Renngericht entsprach dem Antrag seines Vorsitzenden.
So rückten die bundesdeutschen Rivalinnen auf die Medaillenränge vor. Taktisch gewitzt führte DDR-Mannschaftsleiter Manfred Ewald die »skandalösen Vorgänge auf eine lange vorbereitete westdeutsche Provokation zurück«.
»Welche Ironie liegt darin«, mokierte sich der Schweizer Experte Anton Ringwald' »daß grade die Ostdeutschen den Westdeutschen zum Erfolg verhalfen.« In der Nordischen Kombination (Skispringen und Ski-Langlauf) verdankte der Allgäuer Franz Keller seinen Olympiasieg tatsächlich dem mitteldeutschen Konkurrenten Roland Weißpflog.
Obwohl der DDR-Athlet nach einer mäßigen Sprungleistung keine Medaillen-Hoffnungen mehr hegen durfte, schaffte er im Langlauf die zweitschnellste Zeit. Dadurch verbesserte er den Durchschnitt der besten drei Lauf-Ergebnisse, nach dem die Punktzahl errechnet wird. Hätte Weißpflog etwa 25 Sekunden länger für seinen Lauf benötigt, wäre Keller als Dreizehntem die Goldmedaille entgangen.
Doch das Olympia-Aufgebot des Ulbricht-Staates kämpfte nicht nur auf Loipen und Pisten um Prestige und staatliche Anerkennung. Auch das auf 15 Reporter dezimierte linientreue Journalisten-Kollektiv trug auf der einheitlichen Uniform mit nachtblauen Anoraks und Schiebermützen das DDR-Wappen.
Sogar Gespräche mit westdeutschen Journalisten mieden die DDR-Reporter wie scheidungswillige Eheleute mit der Begründung: »Wir haben uns nichts mehr zu sagen.«
Wie Sportler und Journalisten, schwiegen sich auch die Funktionäre der beiden deutschen Staaten an. »Gesamtdeutsche Beziehungen gibt es nicht«, spöttelte der bundesdeutsche Olympiasekretär Tröger. »Es herrscht absolute Funkstille.«