Größere Leidensbereitschaft
Als die bundesdeutsche Frauen-Leichtathletik tiefer abrutschte denn je, setzte Bundestrainer Wolfgang Thiele auf die heilsame Krisis: »Wir müssen erst voll in den Keller, damit der Verband kapiert, was los ist.«
Nach Thieles Rezept fanden die Athletinnen aus dem Keller. Die Frankfurter Medizinstudentin Birgit Friedmann schaffte 1980 im 3000-Meter-Lauf den ersten Weltmeister-Titel der Frauen-Leichtathletik her; 1981 sprang die Kölnerin Karin Hänel mit einem Weltrekord zur Hallen-Europameisterschaft.
Im ersten Länderkampf der Saison besiegte die Bundes-Equipe die Bulgarinnen. Die 400-Meter-Läuferin Gaby Bussmann lief der DDR-Konkurrenz sogar in Ost-Berlin davon. Speerwerferin Ingrid Thyssen verbesserte den fünf Jahre alten Bundesrekord.
»Heute wissen wir, daß wir genauso gut sind wie die anderen«, motzte Weitspringerin Hänel auch gegen Nostalgiker, die noch den Glanzzeiten vom Heim-Olympia 1972 in München nachtrauern, als die Athletinnen um Heide Rosendahl und Hildegard Falck sieben Medaillen einheimsten, darunter vier goldene.
Doch aus der Rosendahl-Ära blieben nur die Rekorde bestehen. Beim folgenden Olympia 1976 in Montreal fiel lediglich Silber für die aus Rumänien umgesiedelte Speerwerferin Marion Becker ab. Annegret Richter und die Sprinterinnen erspurteten je einmal Gold, Silber und Bronze, weil sie, so ihr Bundestrainer Wolfgang Thiele, im Training immer noch mehr leisteten, »als die Männer zu tun bereit waren«.
Aber auch Olympiasiegerin Richter hörte auf, Thiele wechselte zu den Männern. Bei den Europameisterschaften 1978 fiel nur noch je einmal Silber und Bronze ab. Im Europacup 1979 blieben die Sportlerinnen auf dem fünften Platz sitzen.
»Alles dreht sich um die Männer«, nannte Hochspringerin Ulrike Meyfarth eine Ursache. Sie hält sich als einzige Olympiasiegerin von 1972 noch heute auf Rekordhöhe. Aber sie kritisierte auch zur Zeit der tiefsten Flaute: »Mannschaftsgeist habe ich nie erlebt.«
Zudem deprimierte die Bundesdeutschen, daß die in Medaillen-Statistiken und Rekordlisten vorherrschenden Ostblock-Athletinnen nicht nur ihren Vorsprung aus gründlicher Organisation und wissenschaftlicher Unterstützung nutzten. Zusätzlich verschafften sie sich unfair Vorteile aus den Erzeugnissen der Pharmazie. Doping-Tests überführten schon fast ein Dutzend weiblicher Stars aus der UdSSR, der DDR, aus Bulgarien und Rumänien.
In Moskau 1980 entlarvten die Doping-Kontrolleure zwar keine Olympioniken. Nachträgliche Tests ergaben indessen, daß mindestens ein Dutzend Medaillengewinner sich mit dem männlichen Geschlechtshormon Testosteron zu ihren Leistungen hochgeputscht hatten. Nun läßt sich auch ein künstlich zugeführtes Übermaß dieses körpereigenen Hormons nachweisen.
Deshalb hoffen Bundesathletinnen, die keinesfalls spritzen mögen, künftig auf mehr Chancengleichheit. »Ich will mich zeitlebens im Spiegel angucken können«, schwor Sprinterin Monika Hirsch. »Sieben Meter kann man auch ohne Anabolika springen«, glaubt Hallenmeisterin Christina Sussiek.
Als die Leichtathletinnen im Keller steckten, übte sogar der Deutsche S.154 Leichtathletik-Verband (DLV) in einem internen Papier Selbstkritik. Die Funktionäre entdeckten in der eigenen Organisation »zu wenig Beachtung für Frauen-Disziplinen«.
Das sollte sich von 1980 an durch ein ausführliches Leistungsmodell ändern. »Wenn wir keine Hoffnung mehr hätten«, sagte Bundestrainer Thiele, »müßten wir den Beruf wechseln.« Der DLV teilte den Athletinnen bewährte Bundestrainer zu. Thiele betreut die Sprinterinnen, Christian Gehrmann, der Heimtrainer der einstigen Fünfkampf-Weltrekordlerin Eva Wilms, die Werferinnen.
Der Jugoslawe Dragan Tancic, der drei 2,30-Meter-Hochspringer aufrüstete, kümmert sich neuerdings auch um die Springerinnen.
Thiele stellte fest, daß einige Topathletinnen »nur 40 bis 50 Prozent« vom Pensum der Weltklasse trainierten, zudem oft »weit weg von den Erkenntnissen der Sportwissenschaft«, wie der Leverkusener Trainer Rudi Hars feststellte.
Hars brachte es fertig, aus der Speerwerferin Ingrid Thyssen eine Rekordlerin zu machen, obwohl ihr Experimente im Handball-Tor und beim Turnen drei Meniskus-Operationen eingetragen hatten. Nach dem Training »immer um die Knie herum« (Hars), ohne die üblichen Sprünge und Übungen in der Kniebeuge, sagte er forsch voraus: »Da kommt noch mehr nach.«
Die Bundestrainer überzeugten Athletinnen, die bislang Krafttraining mieden, vom Nutzen der Schnellkraft-Übungen mit Gewichten. Erstmals verpflichtete der DLV eine Masseuse für die Frauen-Mannschaft, und einen Gynäkologen.
Dann versuchten die Funktionäre aus den vielen Talenten wieder eine Mannschaft mit Zusammenhalt zu formen. Zum erstenmal schickte der DLV seine jungen Damen -- älteste ist Olympiasiegerin Meyfarth, 24 -- vor der Saison geschlossen in ein Trainingslager. Nach zwei Wochen in Israel verspürte Trainer Thiele »Homogenität, ohne erklären zu können, wieso«.
Zusammen mit den Experten setzten die Leichtathletik-Funktionäre schon wieder ehrgeizige Ziele. Im Europacup soll die Frauenmannschaft in diesem Jahr möglichst vierte und 1983 womöglich dritte werden.
Der Aufschwung fällt allerdings in eine Zeit wirtschaftlicher Flaute. Kaum eine Firma gewährt noch Erleichterungen am Arbeitsplatz. Weitsprung-Rekordlerin Hänel zog des Trainings wegen nach Köln um. Eine Stellung in ihrem Beruf als Gymnastiklehrerin fand sie nicht. Da schlüpfte sie beim Lotto unter. Ihr Chef ist Manfred Germar, der frühere Sprint-Weltrekordler.
Die Fachleute erwarten viel. Denn, weiß DLV-Referent Blattgerste: »Die Leidensbereitschaft der Frauen ist größer.«