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EISKUNSTLAUF Große Party

Eiskunstläufer Toller Cranston bietet die ungewöhnlichste Leistung von allen. Darüber sind sich die Fachleute einig. Doch auch darüber: Die Goldmedaille kann er kaum gewinnen.
aus DER SPIEGEL 7/1976

Die Gangster erwarteten ihn in seinem New Yorker Hotelzimmer und drohten mit einer Pistole. Er händigte ihnen die Gage aus, die er für ein Schaulaufen verdient hatte. Das war den Räubern nicht genug. Da schrieb er einen Scheck aus.

Mehr als andere zu bieten, gehört zum Stil des kanadischen Eiskunstlauf-Meisters Toller Cranston. Aber er bekommt auch mehr geboten als die meisten. Die Revue »Holiday on Ice« lockte ihn mit 13 000 Mark pro Woche für einen Profivertrag, obwohl er beim Innsbrucker Olympia, wie Österreichs Ex-Weltmeister Emmerich Danzer schätzte, »bestenfalls Dritter wird«. Soviel Gage darf nicht einmal der Olympiasieger erwarten, wer immer es wird.

Doch der Kanadier Cranston lehnte ab, weil er als Eisprofi seinen Hauptberuf aufgeben mußte und »nicht mehr genug Zeit zum Malen« hätte. Ein Gemälde bringt ihm bis zu 15 000 Mark und ansprechende Kritiken. Nun kämpft er gegen das Image des Eisläufers, der nebenbei malt. Lieber will er der Maler sein, der auch eisläuft.

Seit der Weltmeisterschaft 1974 in München gilt Cranston als unbestrittener Liebling der Eislauf-Fans in aller Welt -- und Eiskunstlauf wird etwa im Bundesfernsehen von mehr Menschen verfolgt als Fußball.

Auch die Fachpresse spendierte überschwengliches Lob: »Einmalig« fand die frühere österreichische Olympiasiegerin Trixi Schuba seine Kür. Der deutsche Bundestrainer Erich Zeller gestand, »so was in 30 Jahren Praxis noch nicht erlebt« zu haben. Das Fachblatt »Kicker« stimmte ein: »Der Tanz ins Jahr 2000«.

Maler Toller entwertete die Normen der Eisathleten, die mit immer mehr zweifachen und dreifachen Rotationen den Punkterichtern zu imponieren trachten. Zwischen ihren akrobatischen Einlagen müssen sie sich erholen -- gewöhnlich mit phantasielosen Schrittfolgen. Cranston versucht dagegen, auch auf dem Eis zu malen, und bedauert, daß die Spuren so rasch verwischen. Ohne Ballett-Schulung bietet er wie ein Harald Kreutzberg auf dem Eis Ausdruckstanz dar -- bis an die Grenze des Kitsches. Schwierige Sprünge ficht er als Arabesken ein. Dazu mixt er unerschrocken Verdi, die Dreigroschenoper oder gar Beethovens Neunte ins musikalische Begleit-Programm.

Schon mit acht Jahren, sagt Granston, habe er seine Doppelbegabung für Schlittschuh und Pinsel entdeckt. Am Stil hielt er seither fest, malte skurrile Traum- und Phantasie-Motive und versuchte zugleich, »seine Persönlichkeit aufs Eis zu bringen

Als Vorbild nimmt er den zeitgenössischen Friedensreich Hundertwasser und im Eiskunstlauf die sowjetischen Olympiasieger Protopopow. Noch als Teenager verließ er die Kunstakademie und seine Eltern in Montreal, die ihn lieber etwas Praktisches hätten lernen lassen.

Mit 80 Dollar, Schlittschuhen, Farben und Pinseln zog er nach Toronto. In kurzer Zeit verprellte der Individualist ein halbes Dutzend Vermieter. Die erfolgreiche Trainerin Ellen Burka nahm ihn auf. Sie hatte schon ihrer Tochter Petra zur Weltmeisterschaft verholfen und malte zudem auch. Miete und Trainerhonorar beglich Cranston mit Gemälden.

Der Eislauf-Maler zählt zu den wenigen, die den Gattungsbegriff »Eiskunstlauf« wörtlich verstehen. Vor allem der Eislauf-Sport kann nach seiner Auffassung Kunst sein, während ein Sport-Motiv in der Kunst »nichts mehr mit Sport zu tun« habe. Doch hoch schätzt er nur die halbe Eiskunst: Den Pflichtteil sähe er lieber abgeschafft.

Tatsächlich fehlt dem Pflichtprogramm von insgesamt 69 Figuren jeder Reiz: jeweils drei Figuren wie Schlangenbogen oder Achten werden ausgelost. Die Eisläufer müssen alle Schnörkel beherrschen und bei wiederholter Ausführung deckungsgleich auf das Eis zeichnen können.

Die Krefelder Eisläuferin Ina Bauer galt einst -- in ähnlicher Situation wie Cranston gegenwärtig -- als Europas beste Kür-Interpretin. Obwohl sie die Pflichtfiguren gepaukt hatte, »bis die Tränen im Gesicht froren«, brachte sie es wegen mangelhafter Leistungen im Pflichtfach nie zu einer Medaille. Deshalb zog ihr Vater Carl Bauer sie während der Europameisterschaft 1960 aus dem Wettkampf für immer zurück.

Danach wertete die Internationale Eislauf-Union (ISU) die Kür bis zu 60 Prozent Anteil an der Gesamtwertung auf. Cranston half das wenig, bei der WM 1974 gelangte er nach einem achten Pflicht-Platz durch seine sensationelle Kür gerade noch als Dritter auf das unterste Treppchen.

Trotz enttäuschender Bronzemedaille blieb er keinesfalls namenlos: Cranston verkaufte in München Drucke seiner Arbeiten für mehr als 10 000 Mark. Später stellte er mit Erfolg bei einer Düsseldorfer Kunstmesse aus. Trotz beträchtlicher Einkünfte leistet sich Cranston keinen eigenen Wagen: Seine Kunst-Honorare steckt er großenteils in seine Kunstsammlung.

Warum er trotz mäßiger Chancen am Olympia teilnimmt, vermag er nicht schlüssig zu beantworten. Das Winter-Olympia verglich er denn auch mit einer »großen Party für die Massenmedien«. Zu den Favoriten zählt der britische Europameister John Curry: Er übernahm Cranston-Elemente und beherrscht die Pflichtfiguren.

Jüngste Überraschung für die Eiskunstlauf-Kür der Herren am Mittwoch kündigte der Amerikaner Terry Kubicka an: Er verleibte seiner Kür einen Rückwärts-Salto ein. Beim Training in Innsbruck zerstörte er zunächst durch einen Sturz die Eisfläche. »Das Publikum wird toben«, prophezeite dennoch Ex-Weltmeister Danzer. »Dann schnellt die Wertung ein Zehntel hoch.«

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